Die Ehrenhaftigkeit spielt heutzutage kaum noch eine Rolle. Oftmals reicht schon der Hinweis auf die Legalität, um eine Handlung zu legitimieren. Im Fantasy-Rollenspiel oder in historischer Literatur hingegen ist Ehre immer wieder ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Charakteren. In diesen Geschichten, vor allem aber in Rollenspielen, wird sie oft vereinfacht auf irgendwelche starren Verhaltensregeln, die es einzuhalten gilt und anhand deren man dann festmacht, ob ein Charakter „seinem Ehrenkodex folgt“ oder eben auch nicht.
In der realen Geschichte ist Ehre deutlich komplexer und hatte Auswirkungen auf den sozialen und rechtlichen Stand, öffnete oder verschloss Türen und verband Gruppen von Menschen miteinander. Gleichzeitig geht und ging es bei Ehre auch immer um Macht. Wer anderen „Respekt erweist“, unterwirft sich auch oder akzeptiert zumindest Gleichrangigkeit. Ihren Ausdruck finden das Erweisen von Respekt und das Anerkennen der Ehre anderer durch Taten. Verbeugungen, Geschenke, Höflichkeit – alles Aspekte von gelebter Ehre!
Der Ehrbegriff ist übrigens auch nicht überall gleich und veränderte sich im Lauf der Zeit. Ich schreibe hier darum über die Ehre im westeuropäischen, vorrangig deutschen Hoch- und Spätmittelalter sowie in der Renaissance und der Reformationszeit (ca. 1200–1600).
Die Stellung in der Gemeinschaft
Ehre geht den Ehren vor. Ehr’ und Eid gilt mehr als Land und Leut’. Ehre folgt dem, der sie flieht, und flieht den, der sie jagt.
–Sprichwörter
Was genau Ehre ist, bleibt vage und schwer zu greifen. Im Deutschen verbindet sie Ruhm, Ansehen, Würde, Wertigkeit, Verehrung und noch viel mehr in einem großen Paket. Jeder hat „irgendwie“ eine Vorstellung davon, was Ehre bedeuten könnte.
Es ist ebenso wichtig, ob man sich selbst Ehre zuspricht, wie es wichtig ist, dass man verlangt, als ehrlich angesehen zu werden. Gleichzeitig ist Ehre auch abhängig von der Umgebung und dem sozialen Umfeld. Sie spiegelt sich wider im Verhalten von anderen und im eigenen Ansehen innerhalb der Gemeinde. Sie ist der Kern eines „guten Rufs“. Ganz allein im Wald spielt Ehre eine untergeordnete Rolle – aber nicht völlig. Auch ständische Regeln und gemeinsame Wertevorstellungen sind wichtig. Darum wird es aber ein andermal gehen.
Innere Ehre
Ein Aspekt der Ehre ist das eigene Ehrverständnis und die eigene Moral. Diese „innere Ehre“ ist vor allem das eigene Gewissen. Diese innere Ehre ist verbunden mit Begriffen wie Tugend, Moral, Sittlichkeit, Schamgefühl und Ähnlichem. Die Kontrollfrage ist diese: „Wie würdest du dich verhalten, wenn keiner zuschaut?“
Andere wiederum können Bezug nehmen auf diese innere Ehre und es anhand des Verhaltens erkennen. Verhält sich jemand beständig ehrlich, lebt offensichtlich ein moralisches und tugendhaftes Leben und handelt im Kleinen nicht anders als im Großen, so ist er wohl eine ehrenhafte Person! Derjenige kann durch gutes Verhalten dann auch den Anspruch auf Ansehen und Achtung in seiner Gemeinschaft begründen. Jemandem wird Ehre also auch von außen zugesprochen. Das kann verschiedene Formen haben.
Äußere Ehre
Sobald andere im Spiel sind, muss Ehrenhaftigkeit auch irgendwie ausgedrückt werden, damit daraus eine soziale Rangfolge entstehen kann. Was hilft es mir, dass ich ein Ehrenmann bin, wenn keiner davon weiß? Das mag auf den ersten Blick eingebildet klingen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der soziale Stand und das Ansehen in der Gemeinde in der mittelalterlichen face-to-face-society wichtig waren für das Überleben, den wirtschaftlichen und politischen Erfolg sowie natürlich für das Begründen von Dynastien. Was andere von einem dachten, war wichtig.
Das ist auch ein Grund, warum Fremde es immer schwer hatten, Fuß zu fassen. Das Fremdsein wurde z.B. den Spielleuten zum Verhängnis, denen als Gruppe immer der Makel der vermutlichen Ehrlosigkeit anhaftete.
Ehre sichtbar machen
Die Ehre wird also erst greifbar mit der Anerkennung durch andere. Das schlägt sich auch nieder in Begriffen wie „Ehrung“, die ja heute noch verwendet werden. Jedes Zertifikat für eine Fortbildung, jede Medaille beim Schulsport sagt: „Du hast etwas geleistet, das wir als Gemeinschaft für wertvoll halten. Du hast damit gezeigt, dass du innerhalb unserer Gruppe die Regeln anerkennst und etwas Produktives tust.“ Ob man das persönlich so sieht, ist dabei gar nicht so wichtig, erst einmal ist das so historisch gewachsen und hat darum eine lang anhaltende Macht.
Dadurch, dass Leistungen öffentlich gewürdigt werden, bekräftigen sie für jeden gut sichtbar, dass man es hier mit jemandem von hohem Stand und gutem Ruf zu tun hat. Das steigert das Ansehen des Geehrten und macht ihn überhaupt erst bekannt.
Es gibt keine Massenmedien
Man darf dabei schließlich nicht vergessen: Wie soll man erfahren, dass jemand etwas geleistet hat, so ganz ohne Fernsehen, Internet und Zeitung? Als im 16. Jh. eine Gruppe französischer Bauern den habsburgischen König ermorden wollten, scheiterte das unter anderem daran, dass keiner von ihnen wusste, wie dieser aussah!
Wer wichtig war, das wurde fast ausschließlich durch Berichte von Bekannten geklärt oder eben durch öffentliche Zeremonien und groß sichtbare Symbole. Dieses Symbolhafte und Rituelle, um das Abstrakte sichtbar zu machen, zieht sich durch das ganze Mittelalter. Könige tragen Kronen und ziehen durchs Land, damit die Untertanen sich ihnen regelmäßig öffentlich gut sichtbar erneut unterwerfen können. Nur so bleibt jedem gut in Erinnerung, wer über wen herrscht. Der englische König Edward III. betonte seinen Herrschaftsanspruch gegenüber Frankreich unter anderem durch eine neue Fahne, die er direkt nach der Landung an der französischen Küste ausrollen ließ.
Der gute Ruf: innere und äußere Ehre
Nimmt man beides zusammen, dann ergibt sich daraus das, was man den „guten Ruf“ nennen könnte. Diese Mehrteiligkeit der Ehre ist nichts spezifisch Mittelalterliches. Der gute Ruf als Schnittmenge von allem war bereits bei den Römern und alten Griechen ein Thema.
Der tugendhafte Mensch, der vortreffliche Taten begeht, erhält Ansehen und dadurch öffentliche Ehre. Das kann ihn dann auch in Amt und Würden befördern oder – umgekehrt – der Ehranspruch entsteht aus dem Amt und den Würden. Jedenfalls in der Theorie. Wie wir aus der Praxis wissen, haben Tugendhaftigkeit und ein guter moralischer Kompass nicht immer etwas damit zu tun, wie viele öffentliche Ehrungen jemand erhält.
Ehre ist darum verhandelbar. Man findet sie oft in dem wieder, was andere über einen sagen. Der Ruf wiederum ist das, „was man über jemanden gehört hat“ – der sogenannte „Leumund“.
Ehre: Wertvoll wie Geld, schützenswert wie das eigene Leben
Ehre ist selbstredend nicht nur eine Frage des eigenen Egos. Es geht dabei nicht nur darum, sich gut zu fühlen und sich erzählen zu lassen, man sei eine „wertvolle Person“. Ehre hat ganz direkte Auswirkungen auf die eigene Rechtsstellung, die Fähigkeit, Geschäfte zu machen, seine Karriere voranzubringen oder zu heiraten. Banal gesagt: Ehre ist bare Münze wert. Sie ist Teil des sogenannten „sozialen Kapitals“. Darum wurde ein Angriff auf die eigene Ehre oftmals ebenso gewertet wie ein Angriff auf das eigene Leben! Das Argument, die eigene Ehre verteidigt zu haben, konnte deutlich mildernd wirken – selbst bei Totschlag.
Was damit alles möglich ist, kann sich sicher jeder selbst gut vorstellen. Auch heute heißt es ja oft: „Die besten Jobs gibt es nur mit Vitamin B.“ Das ist ja auch nur „soziales Kapital“. Je weniger eine Gesellschaft von Systemen, Bürokratie und Abstraktion geprägt ist, desto wichtiger sind die eigene Person, der eigene Ruf und die Leute, die man kennt. Noch bis ins Hochmittelalter hieß es vor Gericht vor allem: Wer hat genug und glaubwürdige Zeugen? Schriftliche Verträge und Urkunden setzten sich erst im 14. und 15. Jh. Langsam, aber sicher durch.
Zusammenfassung
Die mittelalterliche Ehre ist zusammengesetzt aus der inneren und der äußeren Ehre. Ehre muss darum eingefordert und zugesprochen werden. Zusammen ergibt das den Ruf einer Person. Ist der Ruf gut, kann man dies gewinnbringend einsetzen. Die Ehre ist ein Faktor bei der Frage nach der Wertigkeit oder der Würde einer Person. Man denke an den Begriff „Würdenträger“. Darum kann die Ehre als Teil des sozialen Kapitals verstanden werden.
Die innere Ehre ist das, was man täte, wenn keiner zuschaut. Sie ist eng verbunden mit Moral, Ethik und einem starken „moralischen Kompass“.
Die äußere Ehre ist das, was andere einem an Ehrung zuteil kommen lassen. Die öffentliche Zurschaustellung guter Taten. Sie ist wichtig, um jedem klarzumachen, mit wem er es zu tun hat. „Große Personen“ werden ja nur dadurch groß, dass Leute von ihnen erfahren. Ränge, Titel, Auszeichnungen, öffentliche Reden und Ähnliches sind hier wichtig.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen: