Die Ehre ist in der mittelalterlichen face-to-face-society ein wichtiger Teil des eigenen sozialen Kapitals. Sie bestimmt die eigene Wertigkeit in der Gemeinschaft mit, verhilft zu Posten und ist ein Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg.
Was die innere und die äußere Ehre ausmacht und wie diese den guten Ruf bilden, habe ich im vorhergehenden Artikel erläutert. Eine Sache, die heute keine Rolle mehr spielt, ist der Stand. Wir kennen vor allem noch die soziale Schicht. Allerdings spielt es für uns rechtsphilosophisch keine Rolle, ob jemand reich oder arm ist. Natürlich hat der reiche Manager mehr Ressourcen und kann auf Know-how und Tricks zurückgreifen, die der Putzkraft verschlossen sind, aber grundsätzlich gilt: „Vor dem Gesetz sind alle gleich.“
Das war nicht immer so. Die Zugehörigkeit zu einem der klassischen Stände – Adel, Klerus, Arbeitende – hatte gesellschaftliche und rechtliche Auswirkung. Mit dem Standesdenken gingen auch eine Vorstellung von Ehrenhaftigkeit oder Ehrlosigkeit, eine Auf- und Abwertung bestimmter Berufsgruppen und daraus entstehende praktische Folgen einher.
Ich möchte als Schlagwort die Kasten in Indien aufwerfen, die das Konzept von unterschiedlicher Wertigkeit und den Vorstellungen von Gruppenzugehörigkeit vielleicht besser sichtbar machen. Einige Konzepte der vormodernen Ständegesellschaft spiegeln sich dort in ähnlicher Form wider.
Über konkrete Ehrenvorstellungen der Stände schreibe ich, von kleineren Beispielen im Artikel abgesehen, hier nicht. Das ist schlicht zu komplex und würde fürs Erste den Rahmen sprengen.
Was ehrenhaft ist, wandelt sich
Wie im letzten Artikel gesagt, ist Ehre immer abhängig von einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Ebenso wenig, wie man völlig allein frei sein kann, kann man völlig ohne andere Menschen ehrvoll sein. Ebenso wie Licht und Schatten gehören auch Gemeinschaft und Ehre zusammen. Das kann die eigene Gemeinde sein, aber auch die Zugehörigkeit zu einer Großgruppe wie z. B. „das Christentum“.
Das kommt unter anderem daher, dass Ehre sich dadurch festmacht, dass man mit anderen Leuten Werte und Vorstellungen von Richtig und Falsch teilt. Wenn jemand am Vereinsstammtisch sagt „der Martin ist ein anständiger Kerl“ – woran macht man das fest? Im Sinne des Klischees ist es naheliegend, dass alle Anwesenden einige Werte teilen. Vielleicht ist Martin immer bereit, selbst mitzuhelfen, leiht Freunden Geld, wenn sie in Schwierigkeiten stecken, hilft bei den Vereinsarbeiten mit und übernimmt ein Ehrenamt. „Anständig“ eben. Wäre Martin hingegen Teil eines Golfclubs von Führungskräften, gälten ganz andere Dinge als Ausdruck eines guten Charakters oder wären wichtig für seinen Status.
Alles, was jemanden ehrenwert macht, ist Veränderungen unterworfen. Nicht aber die Idee der Ehre an sich. Die besteht immer daraus, gemeinsamen Werten zu folgen und Anerkennung von außen zu erhalten.
Dinge, die wir heute schändlich finden
Kurzum, es gibt viele Dinge, die einst Teil der eigenen Ehrwürdigkeit waren, heute jedoch einfach nur absurd, verkommen oder grausam wirken. Im Deutschland des 21. Jh. gilt es für die meisten beispielsweise nicht mehr als etwas Positives, dass man jederzeit bereit ist, das Ansehen der eigenen Stadt mit Waffengewalt zu verteidigen. Ebenso ist es für den Ruf des Einzelnen nicht mehr wichtig, gut fechten zu können. Kriegerische Qualitäten waren aber lange Zeit sehr wichtig. Heute hingegen nennen wir das, nun, „mittelalterlich“.
Die Themen sind vielfach die gleichen geblieben, aber ihre Ausdrucksform ändert sich beständig. Niemand beweist heute noch seine Stärke dadurch, dass er besiegte Gegner versklavt. Das Recht durchzusetzen, indem Leute an den Pranger gestellt werden oder man sie verstümmelt, ist ebenfalls nicht mehr rühmlich. Blutrache, um das Ansehen der eigenen Familie wiederherzustellen, ist für uns heute abscheulich. Auch wäre es seltsam, wenn der Bundestag beschließen würde, dass Müllleute ab sofort einem unehrlichen Beruf angehören, um den sozialen Status der „ehrwürdigen“ und der „ehrlosen“ Berufsgruppen stärker voneinander abzuheben.
All das, was dahintersteht, finden wir heute aber immer noch wichtig! Stärke, Recht, das Ansehen der eigenen Familie und sozialer Status – nichts davon hat an Aktualität verloren. Es zeigt sich nur durch ganz andere Handlungen.
Niedere Tätigkeiten? Mitnichten
Ein wichtiger Ausdruck des eigenen Ansehens ist es heutzutage, ob man etwas selber machen muss oder ob man jemanden hat, der das für einen erledigt. Sich mit „einfachen Arbeiten“ abzugeben, ist zwar nicht mehr so spezifisch verpönt wie früher, aber es ist auf jeden Fall kein Zeichen eines hohen gesellschaftliche Ranges, wenn man verschwitzt die eigene Wohnung putzt. Das gilt besonders, wenn man es für jemand anderes tut.
Die exzentrische Elisabeth de Meuron, eine städtische Patrizierin aus Bern, die, 1882 geboren, fast hundert Jahre alt wurde, bringt es mit einem ihrer berühmt-berüchtigten Aussprüche auf den Punkt. Traf sie auf unbekannte Personen, dann fragte sie direkt: „Sind sie jemand, oder beziehen sie Lohn?“
Madame de Meuron war ein Berner Original. Sie starb erst 1980 und wurde damit 98 Jahre alt! Ihr Hörrohr nutzte sie nach eigener Aussage unter anderem, damit sie nur zu hören brauchte, was sie hören wollte. Sie fiel im Bern der mittlerweile föderal organisierten und demokratischen Schweiz durch ihre quasi-mittelalterlichen Ansichten auf. Als sie eine Landstreicherin beim Stehlen von Obst erwischte, sperrte die Madame die Frau für zwei Tage ein. Vor Gericht präsentierte sie einen mittelalterlichen Schrieb, der den Burgherren ihres Stammsitzes die niedere Gerichtsbarkeit zusprach. Sie erhielt nur eine Belehrung und eine Geldstrafe.
Zu „dienen“ ist heute nicht mehr angesehen. Kellner, Gepäckträger, Einpacker, Putzkräfte – alles keine Aufgaben, für die man viel Lob kriegt. Höchstens einmal genervte Kommentare, wie man denn „sogar dafür zu blöd sein kann!“, wenn beim tausendsten Kunden doch einmal ein kleines Malheur passiert. In der Antike war das (Be-)Dienen spezifisch etwas für ehrlose Sklaven, nicht für freie Bürger.
Das war nicht immer so! Andere zu bedienen, war in der christlichen Ethik des Mittelalters eine besondere Ehre. Vermeintlich niedere Aufgaben, wie die Aufgabe des Mundschenks, dem eigenen Lehnsherren Wein nachzuschenken, waren begehrte Posten. Jeder Fantasy-Rollenspieler, der einen Ritter darstellt, sollte einmal einen treuen Freund oder einen Höhergestellten rüsten und wappnen – eine wichtige Sache. Ähnliches gilt für das Halten der Steigbügel. Der „Steigbügelhalter“ ist heute abwertend gemeint, war es aber damals nicht.
Ständische Ehre: Die Rangfolge der sozialen Gruppen
Was das Standesdenken ebenfalls ausmacht, ist die „innewohnende Ungleichheit“ von Personengruppen. Gruppe A verfügt per Definition über mehr Ansehen und Ehre als Gruppe B.
In einer ständisch geordneten Gesellschaft gibt es darum eine Reihenfolge von oben nach unten. Die Mitglieder der verschiedenen Personengruppen (Adel, Bürgerschaft, Bauern, Handwerker, Henker usw.) erhalten nur durch ihre Gruppe bereits einen „Wert“ verliehen. Innerhalb ihrer Gruppe gibt es dann wieder eigene Regeln, die klären, wie ehrwürdig jemand ist. Es gibt so etwas wie „Bauernehre“, aber was diese ausmacht, hat nichts mit dem Ehrverständnis eines Ritters zu tun.
Die Gesellschaft als ganze sortiert sich in Gruppen, und diese stufen dann wiederum die Personen, die dazugehören, ab. Es gibt also eine Art Rangfolge zwischen den Gruppen und gleichzeitig innerhalb der Gruppen.
Nachdem ich nun sehr oft „Gruppe“ gesagt habe, etwas konkreter und eigentlich recht simpel: Der Adlige genießt Vorteile, wo er geht und steht, und ihm wird äußere Ehre zuteil, ohne dass dies an eine Tat gekoppelt wäre. Die Bauern sind ihm untergeordnet, egal ob er Anstand hat oder nicht. Ebenso ist der fleißige Bauer, der sich gut um sein Feld kümmert und seinen Nachbarn beisteht, ehrwürdiger und angesehener als der faule Jupp, der stets versucht, möglichst viel vom Almendeland zu benutzen. Jede städtische Hure und jeder Schinder ist wiederum ehrvoller als das einfache fahrende Volk, denn das steht ausserhalb der eigenen Gemeinschaft.
Hat der Mensch einen Wert?
Provokant gesagt? Ja, klar. Es ist ethisch nicht haltbar und widerspricht dem modernen Ideal der Gleichheit und der Menschenrechte, aber überall da, wo Macht und Geld das Handeln bestimmen, werden wir uns dieser Tatsache regelmäßig schmerzlich bewusst. Tausende von Entlassungen aus „betriebsbedingten Gründen“ bedeuten übersetzt ja lediglich, dass es irgendwo in der Buchhaltung einen Punkt gab, wo der einzelne Mitarbeiter dem Entscheider nicht mehr genug einbrachte. Das ist besonders dann wichtig, wenn die Leute vorrangig ihre physische Arbeitskraft einbringen.
In der Feudalgesellschaft kann der „hochwohlgeborene“ Adlige bereits durch seine Geburt auf Respekt und Ehrenstellung pochen. Auch Ämter, Besitz und der Beruf wiesen Menschen unabhängig von dem, was sie taten, eine Stellung in der Gesellschaft zu, aus der Rechte hervorgingen – was auch Freiheit bedeutete.
Die Ständegesellschaft
Ständegesellschaft bedeutet, dass der Status und die Möglichkeiten im Leben vor allem von der sozialen Herkunft abhängen. Wer als Kind von Bauern geboren wird, kann nicht einfach Graf werden. Nur schon, weil er die Fähigkeiten dazu nie erlernen kann – aber selbst wenn, wäre es schwierig, weil man ihn links und rechts sozial ausgrenzen und schneiden würde. „Emporkömmling“ ist eine altmodische Beleidigung, die das gut zusammenfasst.
Die Stände bilden sich dadurch, dass Leute gemeinsamen Eigenschaften wie Herkunft oder Beruf einen Wert zusprechen sowie Gemeinsamkeiten im Denken und Handeln aufweisen. Kurz: Was tue ich, wo komme ich her, wie verhalte und benehme ich mich, welche Traditionen halte ich hoch und wie erziehe ich meine Kinder? Der Stand wird dann in der Lebensführung sichtbar. Es ist ein wenig wie das moderne Konzept der „Kultur“. Dass Spanier anders leben als Schweden, leuchtet jedem sofort ein, und dass sie wiederum vieles so machen wie ihre Nachbarn auch, ergibt ebenfalls Sinn, nicht wahr?
Heute benutzen wir statt Stände die „sozialen Schichten“, um die soziale Ungleichheit unserer Gesellschaft zu beschreiben. Dabei sind vor allem wirtschaftliche Fragen und der Bildungsgrad entscheidend. Es ist darum auch nicht mehr undenkbar, dass eine reiche Frau einen Mann aus der Mittelschicht heiratet. In der Ständegesellschaft hingegen ist das nicht wünschenswert.
Die sozialen Schichten unterscheiden sich also durch Einkommen und Besitz. Die Stände hingegen durch Prestige (soziale Ehre). Ein armer Adliger ist dennoch adlig. Ein reicher Handwerker ist trotzdem „nur“ ein Handwerker.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen:
- Bloch, Marc. Die Feudalgesellschaft. Übersetzt von Eberhard Bohm. Stuttgart, 1999.
- Burkhart, Dagmar. Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt, 2006.
- Guttandin, Friedhelm. Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchischen Zentralstaat. Berlin, 1993.
- Korte, Hermann, und Schäfers, Bernhard, Hrsg. Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Sixth Edition. Wiesbaden, 2003.
- Simon-Muscheid, Katharina. „Ehre“. Historisches Lexikon der Schweiz (online). Zugegriffen 13. Januar 2019.