Die Straßen chaotisch, die Wohnungen der Armen winzige Kellerlöcher in Bruchbuden, die Stadthäuser der Reichen prächtig, aber weniger gewaltig, als man glauben mag. London um 1750 war ein interessantes Pflaster, das gänzlich anders war, als wir Städte heute kennen.
Das Titelbild, Hogarths „Nacht“, zeigt eine chaotische Szene. Links oben wird ein Nachtopf ausgekippt. Straßenkinder schlafen unter einem kleinen Dach neben der Straße, während eine Kutsche von Chaoten überfallen wird. Der clevere Gentleman ist darum nicht alleine unterwegs. Ein Schwert an der Seite hilft.
Im Mittelpunkt jeder Stadt stehen ihre Menschen. Wer war also unterwegs im London des 18. Jh.? Kurz: Eine unfassbare Zahl von verschiedenen Leuten, viele in Berufen, die wir heute kaum noch kennen. Da es viel zu viele wären, um über alle zu sprechen, widme ich mich erst einmal einigen der interessantesten von ihnen: einigen von denen, die unterwegs waren, wenn die Sonne unterging. Also besonders die Verbrecher und andere Gestalten der Nacht.
Das „kriminelle Element“
Auch wenn viele Bürger der Mittel- und der Oberschicht eine manchmal an Hysterie grenzende Vorstellung vom bewaffneten „Highwayman“ hatten, der mit einer Pistole in der Hand Reisende überfiel, waren die häufigsten Vertreter der kriminellen Schicht viel mundaner: Taschendiebe und andere Kleinkriminelle. Zusammen mit den Prostituierten übernahmen sie nachts die Straßen der Stadt.
Kinder
Besonders wichtig für jedes Einbruchunternehmen oder auch für einen Ring von Taschendieben sind Kinder. Zum einen war die Stadt voller Kinder ohne große Zukunft, die auf jede Form von Zubrot angewiesen waren, und zum anderen konnten die Anführer der Diebesbanden sie prima ausbilden. Sie waren ja schließlich noch jung und lernwillig. Dazu kam, dass Kinder erst ab dem Alter von 7 Jahren zur Todesstrafe verurteilt werden konnten, und bis 14 galt, dass das Gericht eine besondere Niedertracht und Heimtücke feststellen musste. Danach waren sie vor dem Gesetz erwachsen.
Faggers
Eine Aufgabe für Kinder in Diebesbanden war unter anderem, den Job des „Faggers“ zu erledigen. Ein Erwachsener hievte einen jungen Burschen (den Fagger) durch kleine oder schlecht gelegene Fenster in Häuser, der dann zügig die Kisten und Schränke nach Wertsachen durchsuchte.
Apropos Wertsachen. Heute wäre das ja vor allem Schmuck und Geld. Nur, Bargeld war gar nicht so verbreitet, wie man glaubt. Ein wichtiges Diebesgut waren darum Hüte und Perücken! Diese waren einiges wert: Eine gute Perücke konnte einige Pfund kosten, und auch ein Hut war ebenfalls erst ab mehreren Shilling zu haben. Wenn man bedenkt, dass das übliche Gehalt eines Handwerkers selten mehr als 2 Shilling am Tag überschritt, dann ist klar, was ein erfolgreicher Perückendiebstahl einbringen konnte.
Es gab also auch immer wieder Kinder, die darauf spezialisiert waren, Hüte und Perücken zu klauen. Entweder direkt vom Kopf der Leute in Teamarbeit oder auch aus Läden oder Tavernen.
Ladendiebe
Natürlich waren auch der Einbruch und der Ladendiebstahl Teil des Programms der Bandenkinder. Manchmal gingen sie zu zweit in einen Laden, und während der eine Bengel den Ladenbetreiber ablenkte, kroch der andere tief unten herum, sodass er nicht gesehen wurde, und klaute aus den unteren Reihen.
Es ging allerdings auch noch planvoller. Vorneweg: Hier ist es wichtig, sich an die Lebensumstände der Armen zu erinnern, denn Obdachlose und herumlungernde Kinder, die im Freien Schutz suchten, waren nichts Ungewöhnliches. Eine Methode, Läden auszuräumen, war darum ziemlich trickreich. Zwei oder drei Kinder quetschten sich „zum Schlafen“ unter ein Schaufenster, das wie ein Erker etwas nach vorne ragte. In der Nacht kratzten sie den Mörtel zwischen den Mauersteinen heraus und entfernten die Ziegel. Einer der kleinen Ganoven kroch dann in den Laden und schnappte sich, was es zu holen gab, während der andere das Loch mit seinem Körper tarnte.
Taschendiebe
Der Klassiker unter den Kinderganoven waren allerdings Taschendiebe. Kinder waren perfekt dafür. Sie hatten kleine Hände und waren auf der richtigen Höhe, um Taschen auszunehmen oder aufzuschlitzen. Mussten sie fliehen, konnten sie sehr leicht in Menschenmengen verschwinden.
Zumal kaum jemand sich die Mühe machte, Kinder dem Gericht zu überantworten, wenn er einen Taschendieb erwischte. Oft verprügelte man sie mit Stock oder Gürtel, oder man schleifte sie stattdessen zum nächsten Brunnen und drückte sie so lange unter, bis sie fast erstickten, bevor man sie laufen ließ.
Orte wie der St. James Park waren tagsüber, wenn Leute hier spazierten, eine gute Gelegenheit für Taschendiebe. Ebenso nachts, wenn die Prostituierten und die Musikanten hier unterwegs waren, um die Nachtschwärmer zu unterhalten. Die Diebesbanden arbeiteten auch mit Troubadouren zusammen, die ihren Anteil dafür bekamen, die Menschenmengen anzulocken und mit ihrer Musik abzulenken.
Irgendwann wurden Kinder allerdings älter. Einige von ihnen hatten genug Geld angespart, um sich ein Pferd zu kaufen – und im Umland Räuber zu werden. Andere blieben und führten ihre kriminelle Karriere fort oder landeten in der Armee und der Flotte.
Räuber
Was Räuber tun, das ist ja bekannt. Bewaffnet verlangen sie die Herausgabe von Wertsachen. Das passierte auch in London immer wieder. Manchmal auf gänzlich unerwartete Weise, nämlich als Flussräuber!
Mit dem Boot die Themse entlangzureisen, war schnell und sicher – meistens jedenfalls. Von Zeit zu Zeit kam es nämlich vor, dass nächtliche Flussfahrten mit einem spontanen Entermanöver endeten und man plötzlich mit einem Boot voller Räuber konfrontiert war. Die Gefahr, erwischt zu werden, war für die Räuber gering – das Risiko also auch.
Eine verbreitete Weisheit unter Bürgerlichen, die gelegentlich größere Geldbeträge transportieren mussten, war es, zwei Geldbeutel bei sich zu führen. Einen kleinen für den Räuber und einen großen für die Ausgaben.
Grabräuber
Auch Gräber wurden selbstredend ausgeräumt. Einige handelten direkt mit frischen Leichen, welche sie an angehende Ärzte und Chirurgen verkauften, denn an den medizinischen Fakultäten dieser Zeit wurde im Allgemeinen keine Anatomie gelehrt. Dafür mussten zusätzliche Kurse bei privaten Anbietern bezahlt werden, welche dafür wiederum frische Leichen brauchten. Auch wer seine Arbeit üben wollte, brauchte von irgendwoher eine Leiche.
Dazu kam noch, dass arme Leute in dieser Zeit ja richtig arm waren. Nicht ein bisschen, sondern richtig. Es konnte sich also auch lohnen, 150 Bleisärge auszubuddeln, um das Blei als Altmetall zu verschachern!
Andere Nachtschwärmer
Nicht alle, die nachts unterwegs waren, waren Verbrecher. Einige arbeiteten hart für ihr Geld. Andere wiederum waren von eher zweifelhafter moralischer Qualität, Press-Gangs beispielsweise, die zwar auch am Tag unterwegs waren, aber gerade abends und nachts leichte Opfer in Form von Angetrunkenen fanden.
Press-Gangs
Es war in der englischen Flotte üblich, wenn nicht genug Seeleute für den Krieg zur Verfügung standen, Press-Gangs anzuheuern. Das bedeutete, dass eine Bande von Schlägern dafür bezahlt wurde, jeden, der körperlich gesund war und nicht unter eine der Ausnahmen fiel, mit Gewalt für die Flotte zu verpflichten. Wer sich wehrte, der bekam ein paar mit dem Knüppel oder sogar dem Entermesser. Manchmal waren sie so brutal oder wahllos, dass 75% oder mehr der unfreiwilligen Rekruten am Ende für nichts zu gebrauchen waren und von der Flotte wieder abgewiesen wurden.
Die Press-Gangs suchten sich eine Bierhalle oder einen Pub, den sie zu ihrem Hauptquartier machten. Dort gammelten sie herum, bis sie loszogen, denn sie konnten es sich leisten! Der Anführer einer Press-Gang erhielt ein ganzes Pfund Bezahlung pro Tag und ein weiteres Pfund für jeden Rekruten, das er unter seinen Leuten verteilte.
Wer nicht rekrutiert – entführt – werden wollte, der musste ein Haus besitzen oder einem Gewerbe nachgehen. Einfache Arbeiter waren je nach Beruf ausgenommen – sofern sie einen entsprechenden Schein vorlegen konnten, den sie hoffentlich auch direkt präsentieren konnten. Gefälschte Befreiungsschreiben kosteten stolze 3 Pfund.
In besonders schlimmen Kriegsjahren kam es immer wieder zu völligen Auswüchsen, wo sogar Handwerker, Kaufleute und andere wohlhabende Bürger aus ihren Häusern geschleift und durch die Straßen zum Hafen weggeschleppt wurden.
Die night-soil collectors
Nachts kamen jedoch nicht nur die Taschendiebe raus, sondern auch ehrbare Arbeiter: die wichtigen night-soil collectors (Fäkaliensammler). Der Mangel an Kanalisation in der Stadt sorgte ja nicht dafür, dass die Bürger Londons sich einfach den Besuch der Toilette sparten.
Die Ärmsten entsorgten ihre Fäkalien einfach auf der Straße, was zum Londoner Straßenschmutz führte. Alle anderen hatten hoffentlich eine Jauchegrube. Die musste allerdings geleert werden. Hier kamen nun die night-soil men ins Spiel.
Private Dienstleister kamen des Nachts zum Heim des Kunden und schaufelten die Jauchegrube aus, um den Dreck in großen Kübeln wegzuschaffen. Jauchegruben sind gar nicht so schlimm, wenn sie regelmäßig geleert werden. Wer allerdings in Geldnot geriet oder von Anfang an keines hatte, der (und seine Nachbarn) musste fürchten, dass seine Grube irgendwann überlief.
Verfechter der öffentlichen Ordnung
Gegen Taschendiebe, Grabräuber, Press-Gangs und andere Rabauken half leider nur eine kräftige Faust, eine Waffe oder das Anheuern einiger Begleiter. Heute haben wir dafür ja die Polizei, die auch meist recht zügig auf der Matte steht, wenn man anruft.
London, das ist die Stadt, die mit Scotland Yard das moderne europäische Polizeiwesen begründete! 1750 sah das allerdings noch anders aus, denn da herrschten in London Zustände, bei denen man sich die „hochkompetenten“ Wachleute unter dem Kommando von Sam Vimes herbeiwünscht, welche in der Scheibenwelt Dienst schieben.
Die Wache
Englands Hauptstadt gönnte sich nämlich keine angemessene Sicherheitstruppe. Wo in Paris die Soldaten der Maréchaussée für Ordnung sorgten, gab es in London nur „die Wache“. Wer jetzt denkt, dass hier junge muskulöse Kerls bewaffnet mit einer Hellebarde durch die Stadt marschierten, der wird enttäuscht sein.
Die Wache bestand aus alten Männern aus den untersten sozialen Schichten, die, miserabel bezahlt, direkt von den einzelnen Gemeinden der Stadt angeheuert wurden. Sie waren ausgerüstet mit einer Laterne und einem Stock. Immer wieder machten sich Halbstarke einen Spaß daraus, sie zu verprügeln. Damit waren sie schlechter ausgestattet als die Miliz-Wachen des Mittelalters.
Ansonsten taten sie allerdings genau das, was man im Klischee erwartet: Sie riefen zu jeder Stunde die Uhrzeit aus, sie deklarierten am Morgen das Wetter, und wenn man sie rechtzeitig darum bat, dann weckten sie einen frühmorgens, wenn man beispielsweise eine Reise geplant hatte. Zudem waren sie eine Möglichkeit, gelöschte Feuer wieder zu entzünden, falls man in der Dunkelheit die eigene Zunderbox nicht mehr fand, schließlich trugen die alten Wachmänner immer eine brennende Laterne bei sich.
Die Parish Constables
Auf die Wache war also kein Verlass. Zum Glück gibt es ja noch die Schutzleute der Gemeinde. Bürger der Gemeinde, die zwangsweise Dienst schieben mussten oder sich aus der Pflicht freikauften. Sie sollten an sich nach Ganoven Ausschau halten und diese so lange festhalten, bis sie am Folgetag vor Gericht gebracht werden konnten. Theoretisch. Praktisch waren sie in London meist ein Haufen von Betrunkenen, die Schutzgeld von Bordellbetreibern und anderen zwielichtigen Vögeln nahmen. Nahmen sie doch mal jemanden gefangen, dann schafften sie ihn zu einem der kleinen Kerker (sog. Roundhouses), die überall verteilt waren. In diesen Lotterbuden gab es nicht nur Ungeziefer, sondern in belebten Nächten auch zu wenig Platz. Immerhin: Mit etwas Geld in der Tasche konnte man bei den Constables meist frisches Bier oder Schnaps erwerben, während man einsaß.
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„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen:
- Picard, Liza. Dr. Johnsons London. Everyday Life in London 1740–1770. London, 2003.
- Rodger, Nicholas Andrew Martin. The Command of the Ocean. A Naval History of Britan, 1649–1815. London, 2005.
- Seymour, Robert. A Survey of the Cities of London and Westminster, Borough of Southwark, and Parts Adjacent. Bd. 2. London, 1735.