„Wenn du zwei slawische Zwillingsbrüder nimmst und du einen von ihnen kastrierst, so wird er mit Sicherheit in jeder Konversation aufgeweckter sein und an Intelligenz gewinnen. Der andere hingegen wird unverständig und dumm bleiben und zudem die angeborene Einfältigkeit der Slawen aufweisen. Die Kastration reinigt und verbessert den slawischen Geist.“
Wusstest du sicher schon. Jedenfalls, falls du ein angehender Sklavenhändler aus dem 10. Jh. im frühen Kalifat bist und klug genug warst, einen schriftlichen Ratgeber zu kaufen! Beachte auch, dass der Rat nur für Slawen gilt: „Die natürlichen Talente der Schwarzen werden von der Kastration hingegen gemindert.“
Diese Zeiten, wo solche Aussagen als ernstzunehmende Business-Tips durchgingen, sind zum Glück vorbei, und auch die Sklaverei nimmt heutzutage ab. Auch wenn sie nach wie vor in allen Ländern der Welt existiert!
Sklaverei – eine zeitlose Institution?
Wie das Zitat weiter oben zeigt, sahen sogar die Sklavenhändler des Frühmittelalters Nuancen zwischen den Menschen. Es gab nicht nur Schwarz und Weiß (pun intended).
Die Ausbeutung anderer und damit auch die Sklaverei zieht sich trotz allem durch unsere Geschichte. Schnell einmal wird aus den Einzelschicksalen von versklavten Menschen, ebenso wie aus den Leuten, die sie verschleppen, verkaufen, transportieren, handeln und weitervertreiben, ein großer, undefinierbarer Haufen. Sie verschwimmen über die Jahrhunderte ineinander und werden zu einer gefühlten Einheit. Sie werden als historische Akteure, als Menschen „aufgelöst“.
Die Sklaverei als „zeitlose Institution“ beherrscht unsere Vorstellung vom Thema. Alles ist plötzlich entweder Rom oder die Plantagensklaverei in der Karibik und den frühen USA. Dem ist aber nicht so. Sklaverei, also der Besitz von Menschen, hatte viele Gesichter und viele Formen. Die zum Galeerendienst verurteilten vermeintlichen Häretiker in Spanien sind ebenso Sklaven wie die Frauen, die in den Minen Südafrikas die Karren zogen. Sie und alle anderen Menschen, die in den Menschenhandel verwickelt waren, sind keine Statistik, sondern Teil unserer historischen Realität.
Darum möchte ich heute einmal über den frühmittelalterlichen Export von europäischen Sklaven auf der Seidenstraße sprechen. Denn der Handel mit Menschen hörte zwischen dem Niedergang des Römischen Reichs und dem Erstarken der europäischen Kolonialmächte nicht einfach auf. Menschen befeuerten zwischen dem 9. und 10. Jh. als wichtige Währung das Wachstum der europäischen Wirtschaft und finanzierten den Import von Gütern über die Seidenstraße.
Der Kiewer Rus – Drehkreuz des frühmittelalterlichen Sklavenhandels
Viele wissen, dass „die Wikinger“ aus Skandinavien kamen. Viele wissen auch, dass die Wikingervölker ganz schön rumkamen, als Eroberer, Plünderer und auch als Händler. Dabei raubten sie auch regelmäßig Sklaven für die Heimat in Skandinavien, z.B. von den Britischen Inseln oder aus dem Gebiet des heutigen Frankreich.
Einige wissen dann noch, dass in Osteuropa eine fremde Herrscherelite aus Skandinavien anfing, die dortigen Völker zu beherrschen. Erst von Nowgorod in der Nähe der Ostsee, dann aus der Gegend des heutigen Kiew. Dieses Herrschaftsgebiet nennen wir heute „Kiewer Rus“, und sie begann mit der Herrschaft von Rjurik um 862.
Angefangen hatte all das mit den Fernhandelsfahrten über die Flüsse Osteuropas im 8. Jh., wo auch die ersten skandinavischen Fernhändler – die „Waräger“ – Siedlungen an Dnjepr und Don gründeten. Der Name Waräger ist vielen vielleicht aus der „Warägergarde“ der byzantinischen Kaiser bekannt. Dort dienten sie aber erst nach dem Ende ihrer großen Raubzüge.
Sklaven für das Kalifat
Gemeinhin bekannt: Wikinger können kämpfen! Die kriegerischen Rus ebenso. Noch herrschten sie nicht über ein Staatengebilde, sondern finanzierten sich kraft ihres Schwertarms. Angefangen mit der Eroberung Kiews 882, das perfekt gelegen war, um in alle Richtungen Macht auszuüben.
Wie viele große Staaten basierte ihr Reichtum auf dem Handel – nur produzierten die Rus nichts, was anderswo unbedingt gebraucht wurde. Glücklicherweise hatten sie nun über die Seidenstraße exzellenten Zugang zu den Märkten des muslimischen Kalifats mit Sitz in Bagdad. Das Kalifat befand sich durch seine einheitliche Herrschaft und Verbindungen bis nach Asien in einer goldenen Ära, die erst mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten endete.
Die aufblühende, gewaltige muslimische Welt brauchte allerdings Sklaven. Als Arbeitskräfte, als Diener und auch als Soldaten.
Die Sklaven für das Kalifat mit seiner Hauptstadt in Bagdad kamen vor allem aus Zentral- und Osteuropa, wohingegen das Emirat von Córdoba (Spanien) sich zusätzlich aus Westeuropa, beispielsweise Irland, beliefern ließ. Afrika spielte ebenfalls eine Rolle, aber dazu gleich mehr.
Der Appetit nach Sklaven war gewaltig. Die Zahlen dazu sind schlecht erforscht, allerdings können wir davon ausgehen, dass das Kalifat mindestens genauso viele Sklaven pro Jahr verbrauchte wie das Römische Reich. In diesem Fall sind 250.000 Sklaven pro Jahr noch das untere Limit. 500.000 oder sogar mehr sind keineswegs unrealistisch. Ein Händler protzte beispielsweise damit, dass er allein 12.000 Sklaven aus Afrika nach Bagdad verkauft hatte.
Slawen – Sklaven
Die wichtigste Quelle für den europäischen Menschenexeport waren die slawischen Stämme, von denen wir auch das Wort „Sklave“ ableiten. Sie waren nicht in einem größeren Staatenverbund organisiert, was es einfacher machte, sie zu überfallen und zu verschleppen. Die rassistische Ideologie der Moderne, die entwickelt wurde, um die Plantagensklaverei zu begründen, spielte dabei keine Rolle. Selbstredend gab es Stereotype, wie ja schon das menschenverachtende Zitat am Anfang andeutet. Aber im Großen und Ganzen war es egal, wer dein Sklave war. Die meisten Sklavenhändler hielten sich fern von Politik und Religion. Sie waren vorrangig Händler.
Das galt auch für die Rus, die schnell aufhörten, sich darum zu scheren, wen sie da verkauften. Sie verkauften sich auch gegenseitig, wenn einer den anderen in einer Fehde bezwang, denn sie verstanden einander nicht als Schicksalsgemeinschaft. Dass Sklavenhandel ein wichtiges Rückgrat der Rus war, erkennen wir auch daran, wo der Markt in Nowgorod stand: Ecke Hauptstraße und Sklavenstraße. Diese Sklaven im nördlichen Nowgorod gingen dann natürlich nach Skandinavien und Europa.
Sklaven als Währung
Warum war der Sklavenhandel so wichtig? Sklaven sind doch unpraktisch! Sie können krank werden und sterben. Sie können rebellieren. Sie sind groß und sie müssen gefüttert werden! Aber: Sie sind da und sie werden gebraucht. Was nicht da war, das war Silber. Europa hatte nahezu kein Geld. Die Monetarisierung fand erst später statt, und zwar unter anderem mithilfe des Silbers aus Zentralasien, das die muslimischen Händler für den Einkauf benutzten.
Ironisch dabei: Einige Hundert Jahre später war es ein staatsbedrohendes Problem der Osmanen, ausreichend Silber heranzuschaffen, um genug Münzgeld zu prägen. Bis es so weit war, begann die Monetarisierung der europäischen Wirtschaft allerdings auf dem Rücken verschleppter Slawen und anderer armer Seelen, die in die Ferne verkauft wurden.
Der muslimische Reisende Ibrahim ibn Ya‘qub aus Spanien bereiste im 10. Jh. Europa und war erstaunt, welche exotischen Dinge aus Indien er auf dem Markt der deutschen Stadt Mainz fand: Pfeffer, Ingwer, Nelken und Zypergras. Bezahlt wurde wiederum von vielen mit Dirham-Münzen, geprägt aus dem Silber der Minen von Samarkand (Usbekistan). Dass die Kaufleute in Mainz mit Münzen aus dem Bagdader Kalifat bezahlten, sagt einiges über die Menge an einheimischem Bargeld aus.
Die Nordroute am Kaspischen Meer
Europa hatte also kein Geld und keine begehrten Handelswaren. Also blieb nur der Handel mit Menschen, und hier kommen wieder die Rus in Osteuropa ins Spiel. Sie saßen am perfekten Drehkreuz. Sie fingen slawische Sklaven und Sklavinnen, um sie dann in alle Himmelsrichtungen zu schaffen. Genau wie später auch beim Transatlantik-Sklavenhandel und beim Sklavenhandel im Indischen Ozean gab es viele Zwischenhändler und Übergabepunkte – ein Handelsnetzwerk.
Die Route der Rus verlief zuerst nach Osten durch die Steppe nördlich des Schwarzen Meeres durch das Reich der Chasaren, eines nomadischen Turkvolks. Spannenderweise konvertierten die Chasaren im Übrigen im 9. und 10. Jh. zum Judentum. Die Chasaren kassierten Steuern von Handelsreisenden, und alle Stämme der Chasaren zahlten Gelder an ihren Chagan.
Die Nordroute verlor im 10. Jh. an Bedeutung – dazu aber später mehr. Bis dahin flossen Warenströme über das Kaspische Meer: Sklaven und andere Dinge aus Europa nach Süden bis nach Bagdad und Asien. In die Gegenrichtung kamen Silber aus Zentralasien sowie Gewürze, Seide und andere exotische Güter von noch weiter her. Das Silber aus Asien finanzierte das fast schon explosionsartige Wachstum der Städte an der Ostsee.
Die Nordroute verlor im 10. Jh. an Bedeutung – dazu aber später mehr. Bis dahin flossen Warenströme über die kaspische See. Sklaven und andere Dinge aus Europa nach Süden bis nach Bagdad und Asien. In die Gegenrichtung kamen Silber aus Zentralasien, sowie Gewürze, Seide, und andere exotischen Güter von noch weiter her. Das Silber aus Asien finanzierte das fast schon explosionsartige Wachstum der Städte an der Ostsee.
Itil – Markt für Bagdad
Der wichtigste Markt für den Sklavenhandel der Rus war Itil am nördlichen Ende des Kaspischen Meers. Diese Stadt im Chasarenreich war der wichtigste Umschlagplatz für den Handel mit Bagdad. Die Rus transportierten ihre Sklaven in Fesseln über die Flussnetzwerke, um sie dann an chasarische oder byzantinische Händler zu verkaufen. Besonders begehrt und wertvoll waren hübsche Frauen, die vor der Übergabe oftmals noch ein letztes Mal zum Sex mit ihren Verkäufern gezwungen wurden.
Andere Märkte in Europa
Sklavenhandel gab es allerdings auch anderswo. Prag, Verdun, Marseille, Rouen, Venedig, Rom… um nur einige zu nennen. Prag beispielsweise entwickelte sich um 950 zu einem Umschlagplatz für Nordwesteuropa. Europäische Käufer ebenso wie muslimische Händler verschlug es hierher. Sie handelten mit Zinn, Fell und Menschen. Ein jüdischer Kaufmann betonte zudem, dass es hier Mehl, Gerste, Hühner und auch Menschen zu einem fairen Preis gebe.
Weiter westlich waren besonders Verdun und Rouen wichtige Drehscheiben für den Sklavenhandel. Verdun, an der Grenze des heutigen Deutschlands und Frankreichs gelegen, befand sich mitten im Großreich der Franken. Über Rouen hingegen kamen Sklaven aus Irland und den heutigen Niederlanden. In Verdun und Rouen wurden viele der Sklaven kastriert und dann nach Süden geschafft. Das Emirat in Córdoba hatte großen Bedarf an Eunuchen – und auch hier fanden sich viele Slawen. So sind für 961 immerhin 13.000 slawische Sklaven in Córdoba belegt. Dazu noch all die anderen!
Marseille und Rom
Für das Frankenreich war Marseille sehr wichtig. Hier befand sich der wichtigste Hafen für den Sklavenhandel über das Mittelmeer. Die Sklaven aus Rouen und Verdun wurden von muslimischen Händlern über Marseille ausgeschifft. Auch in Rom bewahrte das Christentum niemanden davor, dass wie in alter Zeit mit Sklaven gehandelt wurde. Wie schon gesagt: Religion und Politik waren den Sklavenhändler im Frühmittelalter noch reichlich egal!
Venedig
Venedig, diese Kleinstadt in der Lagune, erhob sich ebenfalls auf dem Rücken der Geknechteten aus dem Sumpf. Um 750 herum begann die Stadt zu wachsen – finanziert durch den Sklavenhandel. Die christlichen Nachbarn versuchten, Venedig einzuhegen, und zwangen die Stadt zu Verträgen, dass ihre Untertanen zurückgeschafft wurden.
Die Stadtrepublik glich diesen Verlust von Jagdgründen erst damit aus, dass sie in Dalmatien und Böhmen (heutiges Tschechien und Polen) Slawen fingen. Als die Stadt genug Reichtum und Macht angehäuft hatte, ging sie aber bald wieder dazu über, die Verträge höchstens noch mit hohlen Gesten zu würdigen. Venedig verkaufte jeden und alles, egal ob Christ oder nicht. Immer wieder kam es zu Klagen, dass es auch freie Leute aus den Nachbarregionen verschleppte und verkaufte.
Das ging so weit, dass die allseits bekannte italienische Grußformel ciao mitnichten „hallo“ bedeutet. Dieses Wort leitet sich aus dem venezianischen Dialekt ab und kommt von „schiavo“ – Sklave. Blumig übersetzt, wäre das also „stets zu Diensten“, etwas direkter: „Ich bin dein Sklave“.
Tipps für den Sklavenkauf
Leider bleiben die meisten Sklaven in der Geschichte stumm und haben uns nichts hinterlassen. Nicht so ihre Käufer und Verkäufer. Zwar habe ich zu Beginn betont, dass jeder Sklave ein Mensch war, dem wir auch zugestehen müssen, dass er Teil einer Gesellschaft war – aber er war eben auch eine Ware.
Ich gehe natürlich nicht davon aus, dass du tatsächlich Sklaven kaufen möchtest. Die folgenden Tipps für den Sklavenkauf von realen Sklavenhändlern veranschaulichen aber vielleicht die Realität des Sklavenhandels und machen sie greifbarer. Lies es darum auch mit einer Prise Salz und pack deinen trockenen Humor aus!
Beachte: Deine Sklaven sind nicht nur Arbeitskräfte. Nein, exotische Sklaven vom Rand des Reiches und darüber hinaus sind auch ein guter Gesprächsaufhänger beim nächsten Fest. Wenn du etwas auf dich hältst, dann kaufst du natürlich zueinanderpassende Sklaven von gleicher Größe, selbem Hautton und gleicher Figur.
Frauen
Als reicher Mann ohne moderner Moral hast du sicherlich Bedarf an gut aussehenden Frauen für dein Bett und als hübsche Bedienstete. Vielleicht so um die 1000, wie es einem Kalifen angemessen ist. Eventuell hast du ja Glück und bist so mächtig, dass du Geschenke und Tribute erhältst, wie der Kalif von Bagdad. Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn die Gesandtschaft aus der Toskana bringt dir nicht nur Schwerter, Schilde, Jagdhunde und Jagdfalken, sondern auch 20 Eunuchen und ebenso viele ausgesuchte Slawinnen mit ihrem exotischen rötlich-hellen Teint.
Musst du selber kaufen, dann beachte die Unterschiede. So gibt es große Unterschiede, sagt ein Handbuch: Von allen schwarzen Sklavinnen sollen die Frauen aus Nubien die besten Dienerinnen sein. Sie sollen die artigsten, liebevollsten und höflichsten Dienerinnen sein. Ihre Körper seien wohlproportioniert und sie hätten gute Haut. Sie respektierten ihren Herrn, als wären sie zum Dienen geboren.
Für das Bett hingegen rät man dir zu den Frauen der Bedscha (Sudan, Eritrea, Ägypten). Sie haben einen goldenen Schein in ihrer Hautfarbe, hübsche Gesichter, zarte Körper, feine Haut, und sie sind gut für das Liebesspiel, wenn man sie noch jung aus ihrer Heimat herausholt.
Dass Sex käuflich ist und war, scheint eine Wahrheit durch die gesamte Geschichte und unabhängig von der Religion zu sein.
Männer
Männer kaufst du vermutlich als Arbeitskräfte. Hier sind andere Dinge wichtig als bei Frauen! Zum Glück haben die Ratgeber auch hier wichtige Tipps für dich, die Fehlkäufe verhindern, wenn du nur darauf achtest. Die mit Abstand besten Sklaven kommen von den Turkvölkern – ohne Zweifel! Niemand schlägt sie an Fähigkeit und Mut.
So oder so: Nimm auf jeden Fall die Ware in Augenschein, denn einige Dinge sind sofort zu sehen. Hat der Sklave einen Gelbstich in der Hautfarbe, dann hat er sicherlich Hämorrhoiden. Einerlei: Jeder potenzielle Kauf sollte sich einmal hinlegen. Drücke ihm dann auf die linke und die rechte Körperseite und achte sehr genau darauf, ob er reagiert. So kannst du herausfinden, ob er eine Infektion oder Schmerzen hat.
Wenn diese oberflächliche Prüfung durchgeführt ist, bist du noch nicht fertig. Versteckte Schäden an der Ware sind immer möglich. Prüfe darum doppelt auf verborgene Probleme: schlechter Atem, Stottern, Taubheit oder schlechtes Zahnfleisch sind alles wichtige Anzeichen!
Sei auf jeden Fall gewarnt vor Männern mit hübschen Gesichtern, vollem Haar und einem gewinnenden Lächeln, denn sie neigen dazu, den Frauen nachzustellen oder für andere als Kuppler zu dienen!
Der Rückgang des Sklavenhandels
Der Sklavenhandel zwischen Europa und dem muslimischen Osten nahm im 10. Jh. aber zunehmend ab. Das hatte mehrere Gründe.
Bargeld statt Sklaven
Die Wirtschaften Europas hatten sich weiterentwickelt und diversifiziert. Tauschhandel wurde immer unpraktischer, da die Warenströme immer komplexer wurden. Die Silbervorräte der Länder waren gewachsen, unter anderem durch den Import des muslimischen Silbers. Der Handel über Sklaven als „Leitwährung“ war einfach nicht mehr praktikabel, stattdessen wurde nun zunehmend mit Silbergeld und Buchgeld (Verrechnung) hantiert. Sogar die Rus begannen, Quittungen und Rechnungen auf Birkenborke auszustellen!
Die Krise des Kalifats
Ohne Kunden kein Handel. Das Kalifat in Bagdad durchlief im 10. Jh. gleich mehrere Krisen. Zwischen 920 und 960 gab es in großen Teilen des Kalifats schlimme Hungersnöte nach gleich mehreren strengen Wintern, die zu vielen Toten sowie Plünderungen und Ausschreitungen führten. Es war so schlimm, dass ein Zeitzeuge berichtet: „Die Menschen sind gezwungen, Gerstenkörner aus dem Dung der Pferde und Esel zu picken.“
Die Mächtigen im Kalifat rangen dem Kalifen immer mehr Einfluss ab, während das schiitisch-sunnitische Schisma sich verstärkte. 969 schaffte es das schiitische Fatimiden-Kalifat, Ägypten zu besetzen, und war nun ein veritabler Gegenpol zum Kalifen in Bagdad. Das führte auch dazu, dass die Händler die Landroute durch das geplagte Reich von Bagdad mieden und stattdessen die Seeroute über das Rote Meer in das ägyptische Kalifat der Fatimiden bevorzugten. Alexandria, Kairo und Tinnis waren unfassbar reiche Handelsstädte in Ägypten, wo der Reichtum von Europa und Asien zusammenfloss.
Die Rus bauen ihre Macht aus
Unter anderem, weil die Rus anfingen, ihr Herrschaftsgebiet stärker zu konsolidieren, und immer größere Kontrolle ausübten. Sie kopierten nämlich das System ihrer ehemaligen Handelspartner, der Chasaren: Schutzgeld. Statt nun andere zu überfallen, kassierten sie lieber direkt von ihnen und schützten den Handel. Nach und nach bezahlten die slawischen Völker ihren Tribut nicht mehr an die Chasaren, sondern an die Rus.
Die kriegerischen Rus waren damit aber nicht fertig mit den Chasaren. In einem blutigen Kriegszug überfielen sie die chasarischen Stämme und brannten 965 die Stadt Itil nieder. Ein Zeitzeuge beschrieb es so: „Wäre auch nur ein einziges Blatt noch an einem Zweig, einer der Rus würde es mitnehmen. Nicht eine Traube, nicht eine Rosine gibt es noch in Chasaria.“
Der Aufstieg Konstantinopels
Während Bagdad schwächelte, konnte Byzanz sich wieder aufrichten. Konstantinopel erlebte so eine Blütezeit, und Europa profitierte von dieser goldenen Ära der Künste und der Philosophie. Der Basileús schaffte es zudem, eine gute Beziehung zum Fatimidenherrscher in Kairo aufzubauen, sodass ihm der Handel nach Ägypten offenstand.
Die Rus wiederum orientierten sich neu nach Konstantinopel. Die kriegerischen Rus wurden urbaner und kosmopolitischer. So konnten die alten Feindschaften begraben werden, und spätestens mit der Taufe des Rus-Herrschers Vladimir 988 war die Gefahr von Norden für Byzanz gebannt. Die Rus profitierten doppelt: Sie bekamen Zugang nach Byzanz und konnten weiterhin über die Steppe handeln, sodass sie große Mengen Seide bis nach Skandinavien verkaufen konnten.
Natürlich endete auch der Wiederaufstieg Konstantinopels – und zwar mit den Kreuzzügen. Als Byzanz im 11. Jh. durch die Seldschuken – Militärsklaven, die sich selbstständig gemacht hatten – unter Druck geriet, wandte es sich an das christliche Europa. Dass die darauf folgenden militärischen Expeditionen nach Nahost nicht nur religiöse, sondern natürlich auch wirtschaftliche Gründe hatten, sollte nach allem, was du hier gelesen hast, offensichtlich sein.
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„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen
- El Cheikh, N. M. (2004). Byzantium Viewed By the Arabs. Cambridge: Harvard University Press.
- Frankopan, P. (2015). The Silk Roads. A New History of the World. London: Bloomsbury. (Anmerkung: eine exzellente Globalgeschichte, die es auch in deutscher Sprache gibt: „Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt.“ Amazon-Link!)
- Mann, M. (2012). Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean. Darmstadt: WBG.
- Miller, J. C. (2012). The Problem of Slavery as History. A Global Approach. New Haven: Yale University Press.
- Wickham, C. (2010). The Inheritance of Rome. A History of Europe from 400–1000. London: Penguin.
- https://www.globalslaveryindex.org/2019/findings/executive-summary/ – abgerufen am 08.03.2020.
- Karte der slawischen Stämme: von SeikoEn, CC BY-SA 3.0.