Die skandinavischen Völker fassen wir aufgrund ihrer Reisefreudigkeit und damit ihrer Fahrten weit übers Meer meist nur als „Wikinger“ zusammen (Wikinger von altnordisch vík – Fjord/Bucht; also jemand, der in den Fjorden unterwegs war). Zwar waren sie weit gereist, aber dennoch hatten sie keine ausgeprägte Schriftkultur. Die fleißige Schreibarbeit irischer Mönche oder die Kanzleischriften der fränkischen Könige waren im hohen Norden nicht wiederzufinden.
Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Institutionen, welche eine stärkere Schriftlichkeit beförderten, in Skandinavien erst ab dem 11. Jh. langsam Fuß fassten. Einigermaßen zentralisierte Staatsmacht? Fehlanzeige bis ins Hochmittelalter. Ebenso ein schreibender, christlicher Klerus, der anderswo nicht nur die Schriftkultur vorantrieb, sondern auch die Verwaltung der weltlichen Herrscher stärkte.
Allerdings waren die Wikinger und ihre germanischen Verwandten auf dem Festland nicht schriftlos. Denn es gab ja Runen – und wer will sich schon mit Pergament oder schnödem Papier begnügen, wenn er einen prächtigen Stein oder eine Felswand als Schreibfläche nutzen kann?
Futhark – das Runenalphabet
Ich will gar nicht lange über das eigentliche Runenalphabet reden, dafür gibt es bessere Quellen. Beispielsweise den Youtube-Kanal von Dr. Jackson Crawford (Englisch). Ebenso, wie das Alphabet nach den ersten beiden Buchstaben des griechischen Alphabets Alpha und Beta benannt ist und wir das deutsche Alphabet auch als das ABC kennen, wird auch das Runenalphabet Futhark nach seinen ersten sechs Buchstaben bezeichnet – das th ist dabei ein einzelner Buchstabe, das Þ. Darum eben „F-U-TH-A-R-K“.
Wo genau die Runen herkommen und welche Einflüsse es gab, ist schwer zu sagen. Die ersten Beispiele von Runen finden wir um 300 bis 500. Einflüsse aus dem Lateinischen ebenso wie Einflüsse aus dem Alpenraum können zur Begründung angeführt werden – aber wie so oft in der frühen Geschichte ist hier wenig Handfestes zu sagen. Aus dem allgemeinen Gebrauch verschwunden ist das Futhark jedenfalls erst mit dem Einzug der christlichen Schriftkultur um 1100, wo das Lateinische die Runen zügig verdrängte. Als Tradition und Kulturgut wurde das Runenalphabet auch noch im 19. Jahrhundert in Skandinavien gelehrt. Noch im Spätmittelalter nutzten skandinavische Bauern an verschiedenen Orten Runen, um Holztafeln mit den Namen ihrer Bauernhöfe zu beschriften.
Es gibt verschiedene Ausprägungen der Runen. Älteres Futhark, jüngeres Futhark. Runenalphabete von den britischen Inseln etc. Diverse Varianten des Futhark sind auch nach den Orten benannt, wo sie vorkommen.
Eines muss dabei klar sein: Eine eindeutige Standardisierung, die über längere Zeit gleich blieb, gab es nicht. Wir finden jedoch Runeninschriften an allen möglichen Orten, wo die skandinavischen Völker ihren Fußabdruck hinterlassen haben. Von Norwegen bis Istanbul.
Mystizismus
„Germanische Runen“ spielen auch eine Rolle in diversen neopaganistischen Glaubensvorstellungen; gerade im Bereich der Mystik und der spirituellen Revival-Bewegungen haben Runen ihren Platz. Dort allerdings weniger als Schriftsystem, sondern im Zuge von Ritualen und „Magie“, ähnlich wie Tarot oder andere Methoden für die Beantwortung von Fragen durch vermeintlich kosmische Kräfte. Allerdings ist vieles von dieser „germanischen“ Mystik auch mit völkischem Unsinn direkt aus dem Geiste der Nazizeit geboren, wo ja Mystizismus und Geschichtsklitterung gang und gäbe waren.
Inschriften
Graffiti kennen wir bereits von den Römern. Besonders in den Ruinen von Pompeji fand man zahlreiche hervorragende Beispiele. Aber auch die Wikinger hatten ihre Form davon. Zumindest vom Tagging. Eine Art von Inschrift, die wir nämlich immer wieder finden, ist das gute alte „Ich war hier“. In der Hagia Sophia findet sich beispielsweise eine solche Inschrift. Halfdan, vermutlich ein Waräger-Soldat aus der Leibwache des Basileus, hat sich dort auf einer Galerie im Obergeschoss verewigt. Die amerikanischen GIs waren darum nicht die ersten, als sie anfingen, mit „Kilroy was here“ überall ihr Zeichen zu hinterlassen!
Die meisten Inschriften sind ziemlich kurz
Viel länger als „Halfdan war hier“ wird es auch meistens gar nicht. Von den gut 3000 Inschriften in Schweden, Norwegen und Dänemark ist ein Großteil nur einige Wörter lang. Die längste wiederum hat 750 Wörter. Zum Vergleich: Dieser Text enthält bis hierhin knapp 450 Wörter. Das Schreiben mit Runen ist schwierig, braucht viel Platz – und ist ziemlich ineffizient, denn jedes Wort muss ja in Stein geschlagen werden. Ein Drittel aller Inschriften kam übrigens erst recht spät und hat christliche Inhalte.
Ein Stein in Ehren
Viele der verbliebenen Inschriften sind Steine, die zur Erinnerung an Verstorbene errichtet wurden. Meistens folgen sie dem simplen Schema: „Yngvald errichtete diesen Stein zur Erinnerung an Ingrid, seine Frau.“ Alternativ gingen natürlich auch Brüder, Söhne, Schwestern etc. Dabei ging es nicht nur um reine Sentimentalität! Ebenso wie einige Herrscher Griechenlands und Roms Gesetze und Dekrete manchmal auf Steinsäulen in der Mitte von Siedlungen in den Provinzen schlagen ließen, hatten solche Erinnerungsinschriften auch eine praktische Funktion: Verkündung und Beleg.
Stell dir vor, das Bürgeramt verschickte Steine …
… dann würde das zumindest in Berlin auch nichts an der Bearbeitungsgeschwindigkeit und Effizienz ändern. Jedenfalls: Diese Belegfunktion der Erinnerungssteine machte das öffentlich, was wir heute in Urkunden und Amtsschreiben finden. Oft wurden die Steine deshalb von der Ehefrau eines Wikingers zu Ehren ihres toten Ehemannes errichtet – gerade, wenn dieser in der Ferne gestorben war, wie es bei Wikingern nun einmal immer wieder vorkam. Verstarb aber nun jemand in der Fremde, dann war es nicht immer praktisch, ihn nach Hause zu bringen. Sein Tod musste also jedem bekannt gemacht werden, und das Errichten eines prächtigen Steines zur Erinnerung half hierbei, den eigenen Anspruch zu festigen.
Orkahaugr
Die Orkney-Inseln haben ihren eigenen Platz in der Geschichte der Wikinger. Durch die Orkneyinga Saga wissen wir einiges über diese Inseln im Norden Schottlands. Lange nach Sigurd dem Mächtigen wurde die Reisegruppe von Harald Maddadsson kurz nach Neujahr 1154 von einem Sturm überrascht und suchte Schutz in einer uralten Grabanlage aus der Eisenzeit: Maeshowe, in der Saga benannt als Orkahaugr.
Dort vertrieben die Reisenden sich unter anderem damit die Zeit, dass sie einen Haufen Runen-Grafitti in die Wand kratzten. Viele davon waren die Klassiker und markierten nur, wer die Männer waren. Sie hinterließen aber auch eine Erklärung, dass sie Kreuzfahrer waren und dass hier ein Schatz versteckt sein solle. Für einige ihrer Inschriften müssen sie großen Aufwand betrieben haben, denn diverse davon sind nur mit Leitern, Seilen oder auf Steinen balancierend zu erreichen.
Dem ungewöhnlichen Eingang der eisenzeitlichen Grabanlage ist vermutlich der sexuell aufgeladene Hinweis geschuldet, dass „so manche Frau hier gebeugt hinein kam“. Wer nach Maeshowe hinein will, der muss nämlich durch einen langen Tunnel. Dieser Tunnel ist nicht nur schmal und unpraktisch zu durchqueren, sondern ist so errichtet, dass das Sonnenlicht zur Wintersonnenwende als langer Strahl bis in die Mitte der Grabanlage reicht.
Orkahaugr bringt darum die beiden einheimischen schriftlichen Quellen zur Geschichte der Wikinger zusammen. Die Orkneyinga Saga bietet uns hier eine seltene Entsprechung der Inschriften und der Überlieferung der Sagas. In vielen Belangen müssen wir sonst leider auf die Überlieferungen ausländischer Chronisten zurückgreifen. Die Sagas mögen nicht immer korrekt sein, und Runeninschriften sind selten besonders lang, aber eines sind sie auf jeden Fall: nicht von den Feinden der Wikinger geschrieben.
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„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen:
- Bartlett, Thomas. Ireland. A History. Croydon, 2010.
- Parker, Philip. The Northmen’s Fury. A History of the Viking World. London, 2015.
- „Runic Alphabet“ auf https://www.britannica.com/topic/runic-alphabet – letzter Zugriff, 9.4.2019.
- Frank’s Casket Von Michel wal, CC BY-SA 3.0.
- Karlevi Runestone in Öland Photo by jarlabanki / CC BY.
- Foto Maeshowe Eingang: Islandhopper, CC BY-SA 3.0.