Bei der aktuellen Generation von Rollenspielen sind Zustände und Statuseffekte so normal wie das Amen in der Kirche. Sie erlauben die Abbildung diverser Umstände und wie diese sich auf einen Charakter auswirken. Ist ihm kalt? Ist ihm heiß? Hat er Hunger? Was passiert, wenn er angetrunken ist, geblendet oder erschöpft? Für die meisten dieser Dinge gibt es entsprechende Labels, völlig gleich, wie sie im jeweiligen System auch heißen mögen.
Der Normalzustand ist dabei immer: Allet schnafte. Alles in Butter, im Lack, im grünen Bereich, paletti, roger und klar. Wenn das Spiel ein Probensystem hat, dann geht es im Normalfall davon aus, dass im Rahmen der Systemrelationen keine Erschwernisse anfallen.
Ist das sinnvoll?
Im Rahmen des Designs von Regelmechanismen ist das absolut sinnvoll. Jedes System, das kein völliger Murks sein soll, benötigt Bezugspunkte und Prüfmarken. Charakterwerte und Fertigkeiten müssen eine Aussagekraft haben, und sie brauchen einen Bezug. Wenn dieser Bezug nicht der ist, dass der Charakter weder nachteiligen noch vorteilhaften Auswirkungen unterliegt, was bliebe dann noch?
Wäre „alles bestens“ nicht der Normalzustand, müsste der Spielleiter schließlich selbst einem gesunden und zufriedenen NSC Zustände verpassen. Das würde den Verwaltungsaufwand deutlich nach oben schrauben.
Ist das realistisch?
Für die statische Betrachtung eines durchschnittlichen Normalzustands ist das absolut realistisch. Aber nur dafür. Im Spiel stellt sich jedoch die Frage, wie oft ein solcher Normalzustand tatsächlich der Spielwirklichkeit entspricht. Das hängt auch davon ab, wie viele verschiedene Zustände und Statuseffekte ein Rollenspielsystem verwendet, wie (und ob) diese abgestuft sind und wie sie sich auswirken.
Nehmen wir beispielhaft einmal an, dass ein System die folgenden Zustände kennt und diese in Stufen von 0 bis 5 einteilt: Angst, Hunger, Unterkühlung, Schmerz, Müdigkeit, Desinteresse, Trunkenheit und Krankheit.
Eine Burgwache in einem Fantasy- oder Mittelaltersetting dürfte die meiste Zeit 1–2 Zustandsstufen in mehren dieser Zustände aufweisen. Leichte Trunkenheit wäre bereits nicht ungewöhnlich für jemanden, der hauptsächlich Bier trinkt. Da Routine und Langeweile der Tod für die Arbeitsmoral sind, wären auch Stufen in Desinteresse und Müdigkeit nicht überraschend. Je nach Situation wären auch geringe Stufen in Hunger und Krankheit angemessen. Wenn es nicht Sommer ist, dann dürften auch Stufen in Unterkühlung keine Seltenheit sein. Dazu kommt, dass, wer allzu oft schlecht schläft und Dienst in nicht maßgeschneiderter Rüstung schieben muss, vermutlich auch von der einen oder anderen Stufe Schmerz geplagt wird: Kreuz, Rücken, Druckstellen.
Selbst eine Konzernagentin in einem Cyberpunksetting ist nach einigen Runden auf der Tanzfläche eines Nachtclubs nicht mehr voll auf der Höhe. Ein paar Cocktails bringen ein gewisses Maß an Trunkenheit mit sich, die Füße schmerzen in den High Heels, und so langsam macht sich Hunger bemerkbar, den Barnüsse nur bedingt beseitigen können. Das allein reicht bereits, um die Performance eines Menschen zu beeinträchtigen. Wenn jetzt noch Müdigkeit dazukommt, dann ist schnell der Bereich erreicht, in dem Menschen anfangen, schwere Fehler zu machen.
Unsere Cyberpunk-Konzernagentin würde vermutlich ein Stimpatch aufkleben oder eine Linie NeoKoks ziehen. Das beseitigt die Müdigkeit für eine Weile und macht die schmerzenden Fußgelenke vergessen. Auch etwaiges Desinteresse kann damit beseitigt werden. Allerdings lässt dieser Effekt bereits nach 20–60 Minuten nach und kippt dann völlig um. Die Müdigkeit stärker als zuvor, durch Niedergeschlagenheit hervorgerufenes Desinteresse, Angstzustände, Hunger und die Rückkehr der Schmerzen. Drogen sind eben mitunter ziemlich problematisch.
Aber allein der Umstand, das Menschen in solchen Situationen nur allzu oft und gern zu leistungssteigernden Mitteln greifen, sagt uns recht deutlich, dass es auch Gründe dafür gibt. Menschen essen Gras, Borke und Käfer, wenn sie zu verhungern drohen, aber wenn es Alternativen gibt, verschwindet Grassuppe mit Birkenrinde und Krabbeltier schnell vom Speiseplan. Aufputschmittel werden genommen, weil sie tatsächlich wirken und weil ihre Wirkung als relevant wahrgenommen wird. Wir alle wissen, wie produktiv wir sind, wenn uns der Schädel brummt, die Augen zufallen, der Magen knurrt oder uns Schmerzen plagen.
Tagsüber bei schönem Wetter, am Tor einer Burg, ein oder zwei Stunden nach Schichtbeginn, in Friedenszeiten und im Dienst eines angenehmen Burgherrn? Da würde ich tatsächlich einigermaßen motivierte Wachen ohne Beeinträchtigungen erwarten.
Warum ist das überhaupt relevant?
Eine der großen Herausforderungen von Regelsystemen ist es, Protagonisten besser zu machen als Statisten. Sogar für ein Spiel, das nach Realitätsnähe und Plausibilität strebt, ist das nahezu unumgänglich. Gleichzeitig scheuen sich aber viele Systeme davor, die Protagonisten einfach objektiv besser zu machen.
Eine nüchterne Betrachtung von Einschränkungen erlaubt es aber, diese Trennung zu vollziehen. Und das völlig ohne Verzerrung der regelmechanischen Bezugspunkte. Indem wir für Protagonisten, also Spielercharaktere und wichtige Nichtspielercharaktere, auf Basis von in dubio pro, bei allen anderen NSCs hingegen in dubio contra entscheiden, verzerren wir die Leistungsspitzen zugunsten der wichtigen Personen. Anstatt dass man unterschiedliche Regelgrundlagen verwendet, kann einfach mit zweierlei Maß gemessen werden.
Es ist nämlich für die meisten Spieler völlig akzeptabel, im Rahmen ihrer Aussetzung der Ungläubigkeit, wenn davon ausgegangen wird, dass die Spielercharaktere nie völlig desinteressiert sind, weniger furchtsam sind als ihre Zeitgenossen und unter weniger Alltagsärgernissen wie Hunger und kleineren Krankheiten leiden. Tatsächlich kommt das vielen Spielern sogar ausgesprochen entgegen. Schließlich kommt es viel häufiger vor, dass ein Spieler meint, sein Charakter sei definitiv nicht abgelenkt, als dass ein Spieler darauf bestünde, dass sein Charakter viel schlechter sein müsste, als der Spielleiter es ihm gerade zugesteht.
Gleichzeitig finden es die meisten Spieler völlig glaubhaft, dass eine Wache todmüde ist, eine andere lieber nur die halbe Runde läuft, weil sie von ihren Hämorrhoiden gepeinigt wird, die dritte ordentlich einen sitzen hat und immer irgendwer seine Aufgaben schlampig erledigt, weil er lieber faul rumsitzt. Spieler akzeptieren diese Dinge, da bekannt ist, dass so etwas immer wieder vorkommt und Teil unserer Lebenserfahrung ist. Wer selbst in einer Armee gedient hat oder Erfahrungen mit Polizeidienst oder Wachschutz hat, kann das sicherlich bestätigen. Wenn nicht für sich selbst, dann vermutlich für eine Menge Kollegen.
Zumal die Spieler all das gar nicht wissen müssen. Der Spielleiter muss sich lediglich darüber im Klaren sein, denn sonst glaubt er am Ende noch, dass er sozusagen fair spielen würde, während er jedoch die Würfel deutlich zuungunsten der Protagonisten gezinkt hat. Wenn die Protagonisten, welche hoffentlich die Spielercharaktere sind, erst einmal besiegt wurden, nutzt es nicht mehr viel, nachzufragen, ob die Wachen nicht eigentlich hätten übermüdet sein müssen. Gewinnen die Spieler jedoch, so werden die meisten von ihnen die Symptome einer Begünstigung kaum zur Kenntnis nehmen. Selbst wenn der Spielleiter beschreibt, wie eine herbeieilende Wache verschlafen und verwirrt wirkt und daher nicht schnell genug den alles ruinierenden Alarm auslöst, wird sich der Spieler, dessen Charakter die Wache schleunigst niederschlägt, am Ende vor allem daran erinnern, dass es seine Aktion war, die ein Auslösen des Alarms verhinderte.
Damit sind dann auch alle zufrieden. Der Spielleiter arbeitet mit plausiblen Kennzahlen und Werten. Alle benutzen die gleichen Regeln, aber die Protagonisten sind in entscheidenden Situationen genau so weit im Vorteil, wie es der Spielleiter will und die Geschichte es erfordert.
Wenn man das als Spielleiter noch etwas kaschieren will, gibt es einen kleinen Trick. Dieses Verfahren funktioniert so, dass man einen Gegner erst zusammenstutzt und ihn dann auf Speed setzt. Das heißt, die Feinde sind schlechter und machen Fehler, weil sie müde und unmotiviert sind, schlecht ausgerüstet und vielleicht von Hunger geschwächt. Aber wenn es erst mal heiß hergeht, geben sie alles, was sie haben, und tun tatsächlich ihr Allerbestes, um die Protagonisten zu bezwingen. Die gewinnen dann trotzdem, aber nicht, weil der Gegner es nicht versucht hätte, sondern weil sie durch die vorangegangene Schwächung einen ausreichend großen Vorsprung hatten.
Wer diesen Trick geschickt anwendet, wird sehr zufriedene Spieler haben, die (durchaus zu Recht) stolz auf die Leistungen ihrer Charaktere sind, ohne dass sie die Hand des Schicksals je gesehen haben, die ihnen dabei geholfen hat. Und das ist doch die eigentliche Aufgabe eines Spielleiters: den Spielern dabei zu helfen, gemeinsam eine spannende Geschichte zu erleben, ohne dass es sich anfühlt wie ein Tunnelspiel.
Kleine Dinge, große Wirkung
Die Auswirkungen dieser kleinen Faktoren sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Nicht nur regelmechanisch, sondern auch real! Der Unterschied zwischen der siegreichen Leibwache eines Fürsten und der Niederlage einer Gruppe von Angreifern, die ihm nach dem Leben trachteten, bestand in der Geschichte oft in einem guten Bett und einem vollen Magen.
Die Leibwache von Königen in Kriegen bestand nicht nur aus über hundert Mann, weil man das zu jeder Zeit gebraucht hätte, sondern weil es Schichtrotation ermöglichte. Ein Teil der Männer konnte ausruhen, schlafen, essen oder anderen Aktivitäten nachgehen, ohne dass der Herrscher derweil schlecht geschützt gewesen wäre. Angreifer hatten diesen Luxus üblicherweise jedoch nicht.
Und im Spiel?
Man kann, wenn man denn möchte, die Spielercharaktere als ganz normale Menschen behandeln und sie im gleichen Ausmaß widrigen Umständen unterwerfen wie NSCs. Diese Art zu spielen hat den Vorteil, dass sie kleine Herausforderungen größer erscheinen lässt. Es verstärkt den Leidensdruck der Protagonisten und zwingt sie ggf. zu extremeren Entscheidungen.
Befreit man die Spielercharaktere jedoch von der Mehrheit der Petitessen, so werden sie, wie bereits dargelegt, mächtiger, ohne dass sie dabei global zu stark werden. Es erzeugt zudem eine Situation, die sich bei historischen Helden oft beobachten lässt, nämlich dass diese oft nur deshalb überlebensgroß erscheinen, weil sie diejenigen waren, denen das Glück beschieden war, es mit unfähigen Gegnern zu tun zu haben. Die meisten Geschichten handeln von Erfolgen und Überlebenden. Ihr Erfolg und ihr Überleben sind dabei logischerweise eine Voraussetzung dafür, dass es diese Geschichte überhaupt gibt.
Beide Entscheidungen können zu einem glaubwürdigeren Spiel führen. Nur eben in zwei unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Empfehlen würde ich allerdings, es einmal mit der zweiten Variante zu versuchen, bei der die aufsummierten Kleinigkeiten vor allem die Antagonisten beeinträchtigen und die Spielercharaktere so weit es geht verschonen. Das reduziert nämlich den Steigerungsdruck bei Charakterwerten und die Notwendigkeit stets neuer Superlative in der Geschichte. Dies wirkt sich besonders dann positiv aus, wenn man eine längere Geschichte spielen möchte, an deren Ende die Protagonisten keine allmächtigen Halbgötter sein sollen. Zusätzlich reduziert es den Verwaltungsaufwand der Spieler. Wenn der eigene Charakter nur von Dingen betroffen ist, die wirklich wichtig sind, dann kann der Spieler sie auch besser würdigen und in sein Charakterspiel einbinden. Dem Spielleiter gibt es derweil mehr Kontrolle über den allgemeinen Ablauf und erlaubt ihm, gezielt gegenzusteuern, ohne dass dies negativ auffallen würde.
Zusammenfassung
Kleinvieh macht auch Mist und steter Tropfen höhlt den Stein. Wer kleine Dinge für die Charaktere groß macht, der rückt größere Dinge in weitere Ferne, was die Progression besonders bei Kampagnen hinauszögern kann. Wer kleine Dinge wiederum für NSCs groß macht, der kann dafür sorgen, dass die Spielercharaktere sich wie Helden fühlen, ohne dass sie dazu Übermenschen sein müssen.