Wie machen das eigentlich bekannte Schauspieler, Charaktere zu verkörpern, die so völlig anders sind als sie selbst? Zumindest psychisch sind gespielte Charaktere völlig anders als die Schauspieler, von denen sie dargestellt werden. Physisch war es lange Zeit so, dass der Schauspieler dem Charakter entsprach beziehungsweise durch die Darstellung des Charakters zu dessen verkörperlichtem Abbild wurde.
Auch das ist heute nicht mehr länger notwendigerweise der Fall. Wenn Andy Serkis Charaktere wie Gollum verkörpert oder Benedict Cumberbatch Smaug spielt, dann haben beide sowohl mental als auch körperlich nichts gemein mit den Charakteren, die sie spielen. Benedict Cumberbatch kann nicht aus eigener Kraft fliegen, er speit kein Feuer und er lebt nicht in der eroberten Zwergenbinge von Erebor. Genauso haust Andy Serkis nicht in feuchten Höhlen oder giert nach Ringen. Wie also schaffen es erfolgreiche Schauspieler, diesen Charakteren Präsenz zu verleihen, sie aus der Fiktion heraus zu erheben und sie eben buchstäblich zu verkörpern?
Method Acting
Method Acting ist eine begriffliche Rückkopplung, entstanden aus dem Konzept der Acting Method. Sie geht zurück auf Konstantin Stanislawski, Lee Strasberg und Stella Adler, wurde aber maßgeblich geprägt und definiert von Strasberg.
Das Grundkonzept ist bei dieser Darstellungsmethode ausgesprochen simpel, erfordert jedoch etwas Übung und birgt gewisse Risiken.
Der Gedanke ist, dass ein Schauspieler sich bei der Darstellung seiner Figur folgende Kernfragen stellt:
1) Wer ist meine Figur?
2) Wo ist meine Figur?
3) Was tut meine Figur dort?
4) Was ging dem voraus?
Auf dieser Basis versetzt sich nun der Darsteller in die gespielte Figur, wobei er versucht, die fiktiven Gefühle und Gedanken der Figur mit seinen eigenen Gefühlen und Gedanken, aus seinen eigenen Erinnerungen, abzurufen. Wenn seine Figur Todesangst hat, erinnert er sich an eigene Momente größtmöglicher Angst. Er ruft Erinnerungen an seine größte Liebe ab, wenn seine Figur in romantischem Taumel ist, und versetzt sich mental in Zorn, wenn seine Figur wütend ist, indem er an Dinge denkt, die ihn wütend machen. Was auch immer seine Figur empfindet, der Schauspieler füllt es mit eigenen Erfahrungsfragmenten, die er so anpasst und kombiniert, wie er es für die Szene braucht.
Dabei unterscheidet Strasberg drei Teilaspekte in aufsteigender Schwierigkeit: das Abrufen von Erinnerungen an vergleichbare Ereignisse, das Abrufen abstrahierter Sinneseindrücke und das Abrufen reiner Emotionen. Besonders Letzteres eröffnet einem erfahrenen Schauspieler die Möglichkeit „in der Luft“ zu spielen und offene Interaktion zu betreiben. Wer es beherrscht, kann so tun, als würde der Charakter, den er spielt, Dinge sehen und erleben, die der Schauspieler selbst nie erlebt hat und auch im Augenblick der Darstellung vielleicht nicht erleben kann. Zum Beispiel, weil Schauspielerei ja eben doch nicht real ist, und zum Teil, weil der riesige Drache, der ihn anbrüllt, erst noch in CGI hinzugefügt wird.
Method Acting, verkehrt herum
Während echtes Method Acting vor allem eine Menge Empathie und Reflexionsfähigkeit erfordert, gibt es auch eine andere Variante des Method Acting, und es ist leider genau die, an die die meisten Menschen beim Begriff Method Acting denken.
Wer wenig reflexionsfähig ist und ein geringeres Maß an Empathie besitzt, vor allem aber ein eher langweiliges Leben führt, kann dies als Schauspieler kompensieren, indem er gezielt und spezifisch die benötigten Emotionen tanken geht.
Diese Schauspieler bereiten sich auf Rollen vor, indem sie die Emotionen und Erinnerungen absichtlich erzeugen, die sie für die Darstellung brauchen. Sie hungern sich halb tot, auch wenn die Rolle das nicht zwingend benötigt, weil sie Entbehrung und Schwäche erfahren wollen. Sie ziehen sich in Armut und Isolation zurück, widmen sich Hobbys, die sie eigentlich nicht mögen, oder machen andere seltsame Dinge. Diese Darsteller versuchen, eins zu werden mit ihrem Charakter, und spielen ihn in jeder freien Stunde, auch abseits von Set und Dreh.
Das Problem an dieser Methode ist, dass diese Leute de facto begrenzt geisteskrank werden, und das mehr oder minder mit Absicht und oft nur halbwegs kontrolliert. Die Schattenseiten dieser Methoden sieht man bei bekannten Method Actors wie Robert Downey Jr., Jared Leto, Christian Bale oder Jim Carrey.
Für Rollenspieler ist diese Methode nicht gangbar und eigentlich auch allgemein nicht empfehlenswert.
Die Lüge aus der Lüge
Die Schattenseite des Method Actings ist, dass sich der Darsteller in seiner Rolle verfangen kann. Ein Trauma des Charakters erfordert Abruf eigener Traumata, Schmerz des Charakters ist die Erinnerung an eigenen Schmerz. Zudem braucht man einen reichhaltigen Erfahrungsschatz vielseitiger Dinge, auf den man als Repertoire zurückgreifen kann. Die meisten Rollenspieler haben das aber nicht. Zumal ja auch schon die meisten Schauspieler nicht darüber verfügen.
Aber es gibt eine Methode, die dieses Problem umgeht, und sie funktioniert so:
Stellt euch nicht vor, ihr wärt euer Charakter. Versucht nicht, euer Charakter zu sein.
Stellt euch stattdessen vor, dass ihr ein Betrüger seid. Ihr selbst. Keine fiktive zweite Person. Ihr seid ein Betrüger, und was ihr tut, ist, euch für andere Personen auszugeben. Diese anderen Personen sind fiktiv. Sie sind eure Charaktere. Aber ihr bleibt ihr. Anstatt dass ihr euren Charakter durch mentales Eintauchen spielt, anstatt dass ihr euren Charakter direkt verkörpert, versetzt ihr euch in die Lage einer Person, die in allen relevanten Belangen identisch mit euch selbst ist, nur eben, dass sie ein Betrüger ist, der sich für euren Charakter ausgibt.
Anstatt dass ihr euch also fragt: „Was würde mein Charakter tun“, fragt ihr euch: „Was würde der Betrüger tun, der so tut, als wäre er mein Charakter?“
Diese Methode funktioniert für die Schauspielerei, und viele bekannte Schauspieler benutzen sie. Einer davon ist beispielsweise Sir Ian McKellan. Die Vorteile dieser Methode sind äußerst mannigfaltig. Es fängt damit an, dass man eine Menge Zeit spart. Der Schauspieler muss nämlich gar nicht wie ein völlig Bekloppter den ganzen Tag so tun, als wäre er jemand anderes. Er muss es nur, wenn die Kamera läuft. Ferner noch tut er es auch vor der Kamera als er selbst. Er hat die volle Kontrolle und kann nach Belieben seinen Charakter das tun lassen, was das Script und der Regisseur wollen, nicht, was sein eingebildeter Charakter eventuell möchte.
Method Acting, echtes wie falsches, hat einen gewissen Appeal und wirkt beeindruckend, aber es ist ineffizient, mitunter gefährlich und für den Schauspieler nicht selten destruktiv. Vor allem aber funktioniert es nicht für Rollenspieler, denn niemand kann solche Leute am Spieltisch ertragen.
Nicht die Kontrolle verlieren
Auch für Rollenspieler ist es wichtig, die Kontrolle zu behalten. Einfach nur seinen Charakter zu spielen, ist nämlich nicht ratsam und führt nur zu Problemen. Niemand will wirklich wissen, was euer Charakter tatsächlich täte. Was in vielen Spielgruppen eigentlich gewünscht wird, ist, dass ihr euren Charakter im Rahmen der Möglichkeiten ausspielt, nicht aber um jeden Preis.
Bestimmte Prämissen, die auf der Metaebene des Spiels liegen, sind nicht minder wichtig. Nur sehr wenige Mitspieler wissen eure grandiose Erklärung zu würdigen, weshalb euer Charakter die gesamte Gruppe verraten hat, wenn man auch ganz anders auf die Situation hätte reagieren können.
Ein Schauspieler ist an das Script gebunden und kann nicht einfach entscheiden, dass sein Charakter handelt, wie er will. Luke Skywalker kann nicht einfach entscheiden, auf Tatooine zu bleiben, genauso wenig, wie er in Minute 1 beschließen darf, ein Jedi zu werden und Tatooine zu verlassen. Wäre es ein Rollenspiel, so müsste Luke zwar auf einen geeigneten Impuls warten, Tatooine zu verlassen und ein Jedi zu werden, aber er dürfte derartige Impulse auch nicht völlig ignorieren, weil er sonst Han und Chewie nicht träfe und der Spielleiter den gesamten Todessternplot an die Wand nageln könnte.
Die Betrügermethode, also die Lüge aus der Lüge selbst, ermöglicht dem Spieler, den Charakter genauso zu verkörpern, wie jede andere Methode der Darstellung auch. Dennoch behält er die volle Kontrolle und kann auf Spielerebene Entscheidungen treffen.
Und der Charakter spielt sich wie von selbst
Wenn Spieler Schwierigkeiten haben, sich so richtig in ihren Charakter hineinzuversetzen, dann weil das in den meisten Fällen ja auch völlig unmöglich ist. Ich kann mich nicht vollumfänglich in einen mittelalterlichen Waffenknecht hineinversetzen. Ich kann mich dem annähern, aber das war es auch schon. Wie sein Haus riecht, habe ich nie gerochen. Genauso wenig weiß ich, wie sich seine Socken anfühlen, wie sein Essen schmeckt usw. – und da fängt es erst an.
Ich kann nicht fühlen und denken wie er, weil mein Kopf gefüllt ist mit Gedanken und Konzepten, die er nie gedacht haben könnte und die er nicht begreifen würde, wenn man ihm davon erzählte. Ich weiß, wie viele Planeten unser Sonnensystem hat. Er nicht. Er kann es nicht wissen und er kann es auch nicht glauben. Es wäre sogar Häresie.
Wenn ich aber nicht denken und fühlen kann wie er, dann hilft mir Method Acting nicht weiter. Auch falsches Method Acting ist nicht zielführend, denn ich kann ja nicht, nur um ein Rollenspiel zu spielen, einen Monat im Mittelalter leben. Das wäre sicherlich cool, aber es ist ziemlich unpraktisch. Und Mittelalter ist ja noch leicht. Cyberpunk? Fat chance, droogs. Star Wars? Hah!
Nein, niemand kann diese Dinge im Rollenspiel wirklich mit Method Acting darstellen, aber die Methode der doppelten Lüge funktioniert. Ihr könnt euch selbst spielen, als Betrüger, der wiederum vorgibt, etwas anderes zu sein. Ein Ritter im Kampf gegen Eisland-Deimoniden, ein dreiköpfiger Drache (oder einer der Köpfe davon), eine Twi’Lek-Tänzerin, die für die Rebellion spioniert, ein britischer Forscher im kolonialen England, der dem legendären Kult des Kat‘Erp-Er-Cers auf die Schliche kommt.
Vom Method Acting braucht eure Betrüger-Persona nur die vier Fragen:
1) Wer ist meine Figur?
2) Wo ist meine Figur?
3) Was tut meine Figur dort?
4) Was ging dem voraus?
Was genau hat es mit diesen Fragen eigentlich auf sich?
Wer ist meine Figur? Je mehr ich über meine Figur weiß, desto besser. Ja? Nein. Nur wichtige Dinge sind wirklich wichtig. Genauso wie ein Rohr mit Sediment verstopfen kann, verheddert sich ein Betrüger in zu vielen Fäden. Behaltet das immer im Kopf. Ihr seid nicht Indiana Jones. Ihr seid der Betrüger, der so tut, als wäre er Indiana Jones. Er muss einiges über Indy wissen, damit er das überzeugend rüberbringt, aber wenn der Betrüger zu viel weiß, stolpert er über irgendwas. Gute Betrüger kontrollieren den Fluss der Informationen, und genau das müsst auch ihr tun. Nach innen genauso wie nach außen. Also schreibt keine 20 Seiten Lebenslauf. Schreibt eine Seite Cheat-Sheet.
Wo ist meine Figur?
Die Verortung ist wichtig. Dabei geht es um die Umgebung, das Setting, das Klima. Stellt euch vor, ihr, also euer Betrüger-Ich, gebt vor, Professor Hopkins zu sein, der gerade von Indien aus seinen Geldgeber anruft. Natürlich seid ihr nicht Professor Hopkins, und ihr seid auch nicht in Indien. Aber der Geldgeber soll das ja glauben, nicht wahr? Also müsst ihr beachten, wo Hopkins sich zu befinden vorgibt. Ist es heiß? Nerven euch die Moskitos? Das sind Details, die der anderen Seite am Telefon glaubhaft machen, dass Hopkins in Indien ist. Vielleicht knistert der Betrüger mit etwas Folie, um eine schlechte Verbindung vorzutäuschen. Nur wer weiß, wie es um seine Figur physisch bestellt ist, kann sie in die Illusion einweben, deren Teil sie werden soll.
Was tut meine Figur dort?
Was ist die Motivation? Auch das muss nicht in die Tiefe gehen. Der echte Professor Hopkins hätte eine sehr komplexe Motivation. Sein ganzes Leben liegt hinter ihm und seine ganze Zukunft vor ihm. Aber das ist nicht der Fall für euer Betrüger-Ich. Ihr gebt nur vor, Hopkins zu sein, und deshalb müsst ihr auch nur die Dinge über Hopkins‘ Ziele wissen, die entweder wichtig für eure Lüge sind oder von anderen abgefragt werden könnten.
Was ging dem voraus?
Wenn ich gerade vom Flughafen komme, wie war der Flug? Ich komme aus Kuala Lumpur? Was habe ich da gegessen? Nein, keine Chronologien. Keine zehn Seiten Bericht. Eine Handvoll Konversationsfragmente, Versatzstücke und Fakten. Mehr nicht. Ihr seid nicht Professor Hopkins. Ihr müsst nur überzeugend vorgeben, er zu sein.
Zusammenfassung
Method Acting, also die Umkehr der „Acting Method“, basiert darauf, dass man eigene Erfahrungen und Gefühle abruft, um einen Charakter glaubwürdig darzustellen. Viele glauben, es ginge dabei darum, zum „Charakter zu werden“, also nicht, ihn zu spielen, sondern eins mit ihm zu sein. Das stimmt aber nicht, denn damit einhergeht Kontrollverlust, der es einem schwer macht, andere Aspekte des Spiels zu beeinflussen, schließlich hat Rollenspiel mehrere Erzählebenen, und nur eine davon ist die In-Charakter-Ebene.
Für das Method Acting stellt man sich folgende Fragen:
1) Wer ist meine Figur?
2) Wo ist meine Figur?
3) Was tut meine Figur dort?
4) Was ging dem voraus?
Jede Frage muss nur gerade ausreichend beantwortet werden, damit man jemand anderes davon überzeugen kann, dass das tatsächlich so ist wie behauptet. Eine Hilfsmethode, die beispielsweise Sir Ian McKellan anwendet, ist die, dass er sich vorstellt, ein Betrüger zu sein, der jemand anderem vorgibt, der eigentliche Charakter zu sein. So sorgt er für die nötige Distanz zwischen sich und dem Charakter, um nicht von dem Charakter beherrscht zu werden, aber eben dennoch glaubwürdig zu wirken.