1979 kam ein Film in die Kinos, der die Science-Fiction umkrempelte: ALIEN.
Ein Horror-Science-Fiction-Film mit einem furchteinflößenden Monster, einem plausibel-realistisch anmutenden Schauplatz und einer starken Frau in der menschlichen Hauptrolle.
ALIEN griff das Konzept des sogenannten Benutzten Universums (used universe) auf, das bereits bei STAR WARS Verwendung fand, und perfektionierte es. Alles in ALIEN sah echt aus, plastisch, funktional und glaubwürdig. Druckschleusen wirkten wie Druckschleusen, die Brücke der Nostromo sah aus, als wäre sie hochkomplex, modern, aber funktional und so weiter. Alle, die den Film gesehen haben, wissen sofort, was ich meine. Alle, die ihn nicht gesehen haben, sollten das, so schnell es geht, nachholen!
2014 erschien dann ein von SEGA publiziertes Computerspiel vom Studio Creative Assembly: ALIEN: Isolation. A:I war nicht das erste ALIEN-Computerspiel, aber es war das Erste, das kein völliger Murks war oder darunter zu leiden hatte, dass die Computertechnologie noch nicht zu besonders viel imstande war.
Und ob man ALIEN: Isolation nun gespielt hat oder nicht, ob man es mag oder nicht: Es gibt etwas, was man sich als Spielleiter von diesem Spiel abgucken kann. Etwas, wovon man lernen kann und womit man das heimische Pen & Paper Rollenspiel für sich selbst und für die Mitspielenden interessanter, unberechenbarer und gleichzeitig fairer machen kann. Ich spreche von dem KI-System des Spiels.
Aber einen Schritt nach dem anderen. Gehen wir die Betrachtung doch einmal systematisch an.
Was ist das ALIEN?
ALIEN: Isolation hatte eine gewaltige Herausforderung zu lösen: das ALIEN. Das ALIEN ist der heimliche Protagonist aller guten ALIEN-Filme, also von ALIEN und dem Nachfolger ALIENS. Die anderen kann man mögen, aber wenn man das zugibt, bekommt man bei mir kein Steak mehr serviert. (Ich bin da eigen.)
Das ALIEN ist ein Killer. Es ist erbarmungslos, schnell, stark, hervorragend bewaffnet, gut geschützt und obendrein teuflisch intelligent. Es ist das ultimative Raubtier, und die Protagonisten von ALIEN und ALIENS sind seine Beute.
Im Spiel ist das nicht anders. Hinzu kommt, dass man das ALIEN im Spiel praktisch nicht besiegen kann. Es gibt keine Waffe, mit der man es einfach so töten könnte. Es gibt auch keine, mit der man es mit etwas Mühe könnte. Das ALIEN zu töten, ist nicht Mittelpunkt des Spiels. Das Spiel dreht sich, ähnlich wie der erste Film, im Kern darum, irgendwie zu überleben.
Was ist das Ziel des Spiels?
Eine Geschichte, die sich aber um ein Raubtier dreht, ist nur so gut, wie eben dieses Raubtier inszeniert werden kann. Bei einem Film haben wir es mit einem passiven Produkt zu tun. Seine Story wird erschaffen, optimiert abgefilmt, geschnitten und am Ende vorgeführt. Regisseur, Cutter, Drehbuchautor und Kameraregie haben die absolute Kontrolle im Rahmen ihrer technischen Mittel, um den Zuschauern vorzusetzen, was sie wollen.
Davon können wir zwar im Rollenspiel auch etwas abschauen aber als Rollenspieler wissen wir auch, dass wir das so im Rollenspiel nicht mit dem selben Maß an Kontrolle können. Auch dann nicht, wenn ein Ralf Hlawatsch die Spielleitung in seinen Abenteuerheften übel beschimpft, wenn sie sich weigern sollte, es durchzuprügeln.
Wir können das Drama im Spiel lenken, aber wir können es nicht auf Linie zwingen. Versucht man das dennoch, lehnen viele Rollenspieler das als Railroading ab. Man kann Rollenspieler nicht zu ihrem Glück zwingen, denn ein Teil ihres Glücks ist die Freiheit, ihres eigenen Schmied zu sein.
Die Magie der Illusion
ALIEN: Isolation stand also vor der gewaltigen Herausforderung, dem Spieler im Spiel einen Antagonisten gegenüberzustellen, der absolut übermächtig war, es aber letztlich nicht sein durfte. Einen Gegner, der unheimlich gefährlich wirken musste, es aber letztendlich nur bedingt sein durfte.
Eine Spielerin, die A:I in der Haut der Protagonistin, Amanda Ripley, spielt, muss das ALIEN fürchten, respektieren und ernst nehmen. Gleichzeitig darf sie aber nicht völlig von dieser Kreatur eingeschüchtert sein. Und was sie auf keinen Fall denken soll, ist, dass die künstliche Intelligenz, die das ALIEN im Spiel steuert, betrügt. Im Rollenspiel ist das vergleichbar mit dem sogenannten „Drehen“ von Würfelwürfen, der Manipulation von Ergebnissen und dem Verändern von Setzungen ohne Wissen der Spielenden, um das Spiel seinem Fortgang nach Wunsch der Spielleitung anzupassen.
Zu sagen, dass man so was nicht machen dürfe, ist etwas, was die Rollenspielszene vermutlich knapp in der Mitte 50:50 spaltet. Daran will ich mich in diesem Artikel aber nicht aufhängen, denn das ist ein Thema für sich. Darum wäre es gut, wenn du mir wahlweise zustimmst, dass ein wenig Mogelei kein Problem ist, oder für den Moment einmal ignorierst, dass du das vielleicht genau andersherum siehst.
Was ist das Dilemma des Spiels?
Im Rollenspiel haben wir eine Spielleitung aus Fleisch und Blut. Also eine echte Intelligenz. Computerspiele haben das nicht. Computer können zwar absurde Mengen an Daten in atemberaubendem Tempo verarbeiten, aber nach Maßstäben menschlicher Intelligenz sind sie dümmer als der dümmste Rollenspieler, den du je getroffen hast, oder sogar als dessen Hund oder Meerschwein.
Nun haben wir es aber bei ALIEN: Isolation mit einem Spiel zu tun, bei dem ein intelligenter, denkender Spieler eine Protagonistin steuert und das Spiel durch sie erlebt, während sie von einem erbarmungslosen Super-Raubtier verfolgt wird. Wie funktioniert das, wenn doch der Computer gar nicht imstande ist, zu denken wie dieses Raubtier?
Dies ist ein Problem, das praktisch alle Computerspiele haben. Wie programmiere ich eine KI, die Spieler vor eine angemessene Herausforderung stellt? Und in diesem Fall: Wie programmiere ich eine KI, die glaubwürdig ein brillantes Super-Raubtier verkörpert? Glaubwürdig genug, dass die Stimmung des gesamten Spielerlebnisses daran gekoppelt werden kann?
Selektive Wahrheiten
Sei ehrlich, wann immer du kannst, aber betrüge, wenn du es musst. Viele Rollenspieler denken dabei zu allererst an das Verfälschen von Würfelwürfen. Das ist aber nicht, worum es hier geht. Zumindest noch nicht.
Die wichtigste Entscheidung, die die Macher von ALIEN: Isolation getroffen haben, war, klar zu regulieren, wo sie betrügen wollen und wo sie aufrichtig sind. Das Spiel hat daher nicht einfach nur eine KI für das ALIEN. Es hat zwei.
Die erste Ebene ist die Verhaltenssteuerung des ALIENs. Sie kontrolliert das ALIEN ganz unmittelbar, so, wie es an einem Ort im Spiel agiert. Wo und wie sucht es nach der Protagonistin? Sucht es besonders gründlich in einem kleinen Bereich? Läuft es scheinbar wahllos und erratisch hin und her? Guckt es in Schränke? Und wenn das ALIEN einen Charakter im Spiel entdeckt, wie greift es an? Rennt es direkt darauf zu? Oder täuscht es vor, das Ziel nicht gesehen zu haben, nur um nach kurzem Abwenden urplötzlich zurückzuschnellen?
Erfahrungen prägen das ALIEN
Diese Verhaltenssteuerung beginnt dumm und unwissend, mit vielen Entwicklungsoptionen. Wenn der Spieler das ALIEN zum allerersten Mal mit einem Flammenwerfer bedroht, handelt das ALIEN, als wäre die Waffe gar nicht da. Es greift an und wird vermutlich von den Flammen erwischt. Geschieht dies, flieht es. Von nun an beginnt es jedoch, sein Verhalten zu verändern. Je öfter es mit dem Flammenwerfer zu tun bekommt, desto mehr verändert sich die Art, wie es damit umgeht. Es zögert, wenn es ihn sieht, macht Probeangriffe und versucht, den Spieler zu flankieren oder ihn zu provozieren, seinen Brennstoff zu verschwenden.
Ähnlich verhält es sich mit dem Suchverhalten des ALIENs. Wenn der Spieler sich mehrfach erfolgreich in Schränken versteckt hat, beginnt es, öfter in Schränke zu gucken. Versteckte sich der Spieler hingegen mehrfach erfolgreich unter Tischen, beginnt es, verstärkt unter Tischen zu suchen.
ABER! Bei all dem hat die Steuerung des ALIENs keinerlei Kenntnis davon, wo der Spieler sich gerade befindet, wohin er guckt oder welche Ausrüstung er hat. Das ALIEN weiß nichts von all dem. Es kann nicht betrügen – und es betrügt trotzdem!
Der Regisseur stößt an und lenkt
Hier kommt nämlich die zweite Steuerungsebene von ALIEN: Isolation ins Spiel: Der Regisseur, aka. die Director AI. Das Regiesystem sorgt dafür, dass das Spiel spannend ist, fordernd bleibt, aber dem Spieler auch Chancen gibt. Und diese KI ist allwissend. Sie weiß, wo der Spieler gerade ist, wohin er guckt und welche Ausrüstung er hat.
Anstatt aber dem ALIEN diese Informationen zu geben, stupst die Regie das ALIEN nur in gewisse Richtungen. Sie sorgt dafür, dass das ALIEN immer wieder mal die Orte besucht, die gerade wichtig sind für die Mission des Spielers. Wichtige Türen, wichtige Schalter, wichtige Räume. Die Regie schickt das ALIEN dort hin, aber sie schickt es auch zu anderen Orten. Orten, wo der Spieler gerade überhaupt nicht ist. Wie es dort hinkommt und was es dort macht, ist aber stets Sache der Verhaltenssteuerung, also des ALIENs selbst. Und: die Regie hilft dem Spieler auch. Sie reguliert, wie lange das ALIEN nach dem Spieler sucht. Sie kontrolliert sozusagen, wann dem ALIEN langweilig wird. Je schlechter der Spieler ausgerüstet ist und je nervöser er sich verhält, desto kürzer verweilt das ALIEN.
Schutz vor Überforderung
So verhindert das Spiel, dass der Spieler sich überfordert fühlt. Wenn man das Spiel spielt, muss man glauben, eine Chance zu haben, und dieser Glaube muss im Allgemeinen der Wahrheit entsprechen, wenn man sich einigermaßen vorsichtig, aber auch angemessen risikofreudig verhält. Im Idealfall hat der Spieler so das Gefühl, dass das ALIEN ihm immer im Nacken sitzt und hinter jeder Ecke lauern könnte.
Aber der Spieler wird nicht betrogen. Er kann das ALIEN austricksen, weil das ALIEN immer noch aufgrund seines eigenen Verhaltens handelt. Es muss den Spieler mit seinen virtuellen Augen sehen. Es weiß nicht einfach so, wo er ist.
Das Zusammenspiel dieser beiden Systeme ist also ehrlich und fair, wo es drauf ankommt, und aktiv steuernd, wenn es darum geht, die richtige Stimmung zu erhalten.
Was bedeutet das für Rollenspiele?
Grundsätzlich betrachtet, können wir als Spielleiter diese Methode kopieren. Wir können zwar nicht so viele Daten verwalten wie ein Computer, aber wir können genauso Verhaltenssteuerungen mit Regiekonzepten verbinden.
Dabei können wir vor allem von der Frage profitieren, die bei der Konzeption von A:I beantwortet wurde: Wo sage ich die Wahrheit und wo lüge ich?
Dramaturgie ist nicht regelbar
Der Kern einer guten Geschichte ist packendes Drama, und genau das ist etwas, was Spielregeln nicht produzieren können. Im Comedy-Genre, egal ob Filmkomödie oder Stand-Up Comedy, ist Timing buchstäblich alles. Ohne das richtige Timing floppt der beste Witz oder, im Falle von ALIEN: Isolation, der beste Horror.
Gerade hier schneiden sich viele Rollenspieler ins eigene Fleisch, wenn sie nämlich dem Simulationswahn verfallen. Das Bedürfnis, eine Spielwelt möglichst glaubhaft zu gestalten, ist löblich und nachvollziehbar, und Simulationstechniken sind dazu ein gern verwendetes Mittel. Man muss sich aber der Schwächen dieser Techniken bewusst sein.
Wenn die Spielfiguren einen wichtigen NSC suchen, von dem sie eine Information benötigen, dann mag es zwar sehr plausibel erscheinen, wenn die Spielleitung diesem NSC einen kompletten Tagesablauf mit Zufallsfaktoren erarbeitet hat, bei dem sie immerzu irgendwie weiß oder ermitteln kann, wo sich diese Figur befindet. All das nutzt dem Spiel aber überhaupt nichts, wenn es lediglich dazu führt, dass die Protagonisten wirr in der Gegend umhereiern und den wichtigen NSC ständig verpassen oder schlicht nicht finden können.
Rollenspiel ist eine Dramatisierung und nicht das echte Leben. John McClane fährt mit einer Limousine zur Weihnachtsfeier im Nakatomi Tower. Auf dem Weg dorthin plaudert er mit dem Fahrer. Könnte er auf dem Weg auch einen Autounfall haben? Aber sicher doch! Und dann muss er mit der Polizei sprechen, kommt vielleicht ins Krankenhaus… Aber dann verpasst er die Geschichte des Films, und nichts funktioniert mehr. Simulation ist hier nicht im Interesse des Dramas und nicht im Interesse des Zuschauers.
Der Zufall darf die Handlung nur verbessern – nicht verschlechtern
Bei ALIEN: Isolation ist es genau so mit dem globalen Verhalten des ALIENs. Jeder ungelenkte Zufallsalgorithmus kann sehr merkwürdige Resultate produzieren. Stell dir vor, du spielst dieses Spiel und begegnest praktisch nie dem ALIEN. Oder stell dir vor, es hockt direkt vor deinem Missionsziel und geht dort einfach nicht weg. Das Spiel würde nicht funktionieren.
Das Gleiche gilt auch für NSC im Rollenspiel. Würde ich deren Verhalten allein auf Zufallsbasis bestimmen, käme sehr seltsames Zeug dabei raus. Wie sollen die SC etwas aus dem Büro des Gangsterbosses stehlen, wenn dessen Zufallswurf, wo er hingeht, konstant das Ergebnis „sein Büro“ produziert und er daher nie das Büro verlässt?
Strukturelle Zusammenhänge sind strukturierbar
Erinnerst du dich an den Artikel zur Interaktionsmaschine? Es gibt Systeme, die es der Spielleitung erleichtern, komplexe Zusammenhänge und Konsequenzen zu verwalten. Die Interaktionsmaschine regelt das Wechselspiel verschiedener Kräfte. Sie arbeitet aber grob genug, dass die Spielleitung die dramaturgischen Auswirkungen noch beeinflussen kann. Zudem hat man sie ja im Idealfall selbst angefertigt, sodass sie im eigentlichen Sinn gar nichts anderes ist als eine Kodifizierung dramaturgischer Abwägungen.
Konfrontation IST regelbar
Während die Dramaturgie nur sehr schlecht geregelt werden kann und man bei der Interaktionsmaschine nicht zu detailliert werden sollte, sieht das bei der direkten Konfrontation völlig anders aus. Die meisten Rollenspiele verfügen genau dazu über Spielregeln. Wenn diese Regeln gut genug sind, kann man Teile der taktischen Verhaltensweisen von NSC den Regeln überlassen.
Wenn der Gangsterboss nach dem Essen im Büro in seinem Büro auf der Couch schläft, weil der Zufallsalgorithmus penetrant verhindert, dass er das Büro verlässt, und die SC nun dennoch dort einbrechen, können wir mithilfe der Regeln auf der Detailebene dieser spezifischen Situation ermitteln, was passiert. Wir können Schleichproben würfeln lassen, Scharfsinnigkeitsproben für die Wache im Nebenraum ablegen, Intuitionsproben für den dösenden Gangsterboss machen, alle 10 Minuten einen Würfel werfen, um zu gucken, ob er zufällig aufwacht… All das ist regelbar, und wenn wir die Regeln vorher definiert haben, kann es auch fair sein.
Aber wir können einen Schritt weiter gehen, als es die meisten Regelsysteme üblicherweise tun! Wir können Intentionen und Verhaltensweisen vordefinieren.
So können wir beispielsweise festlegen, dass Mickey „Das Messer“ Krabowsky bei jeder Provokation auf Willenskraft würfeln muss und bei einem Scheitern eine Schlägerei anfängt. Wir können ebenso festlegen, dass Mickey, immer wenn er zu verlieren droht oder wenn jemand irgendeine Form von Waffe zückt, sein Messer zieht.
Wir können Mickey also mit einer Verhaltenssteuerung ausstatten, genau wie es ALIEN: Isolation macht. Nicht so komplex wie in einem Computerspiel, aber vom Prinzip her. Ein Computer kann ja viel mehr Daten verwalten und verarbeiten, als ein Mensch es jemals könnte. Ein paar solche Dinge festzulegen, hilft aber ungemein und macht das Spiel objektiv fairer und für die Spielleitung übersichtlicher.
Werkzeuge kombinieren
Wie auch beim Computerspiel ist der Schlüssel zum Erfolg die Kombination verschiedener Werkzeuge.
Entscheide als Spielleiter, dass deine NSC Gründe haben, genau die Orte aufzusuchen, an denen sie aus dramaturgischen Gründen sein sollten.
Strukturiere dein Spiel, vor allem das Zusammenspiel komplexer Elemente, bei Bedarf mit einer Verhaltenssteuerung in Form einer Interaktionsmaschine.
Überlasse dann aber die NSC, so weit es möglich ist, einer eigenständigen Verhaltenssteuerung, in Form der Spielregeln, ihrer regelmechanischen Werte und einiger Kernsatzungen.
Nützliche Satzungen
Wenn du NSC eine Verhaltenssteuerung mithilfe der Spielregeln geben möchtest, fügst du am besten auch gleich ein paar Grundsätze hinzu. Diese sind oft sogar nützlicher als die meisten Charakterwerte. Ob der Mafiaboss persönlich imstande ist, ein Auto zu fahren, oder ob er seine Steuererklärung notfalls auch selbst machen könnte, dürfte nicht sehr oft relevant sein. Regelmechanische Eigenschaften, die so etwas abwickeln können, sind oft Karteileichen. Aber wenn du festgelegt hast: „Hält immer sein Wort“, „Verabscheut Gewalt gegen Kinder“, „Flucht nicht“ und „Flieht niemals freiwillig aus einer Konfrontation“, dann hast du eine Menge Anhaltspunkte für die Feinsteuerung dieser Figur.
Auch das Eskalationsverhalten einer Figur kann ein nützliches Hilfsmittel sein. Mickey „Das Messer“ Krabowsky prügelt also schnell los und zückt bei weiterer Eskalation sein Messer. Sein Partner Pepito „Dogface“ Garibaldi handelt womöglich völlig anders. Wenn der gesetzt ist als jemand, der immer sofort seine Pistole zieht, aber tödliche Gewalt nur im Notfall einsetzt, dann haben wir bereits ein gutes Bild von einer Kampfdynamik, wenn diese beiden Gangster in Schwierigkeiten geraten. Vermutlich wird sich Mickey prügeln, während Pepito mit gezogener Pistole daneben steht und dafür sorgt, dass Mickeys Kampf in Mickeys Sinn fair bleibt. Und wenn jemand im Kampf gegen Mickey nun seinerseits eine Schusswaffe zieht, würde Pepito den Typen womöglich direkt niederschießen.
Letztlich handelt es sich dabei nur um einen Trick, um komplexe Persönlichkeiten mit unübersichtlicher Psychologie auf etwas Einfaches herunterzubrechen, was man als Mensch auch im Kopf behalten kann. Labels eben!
So ist dann dafür gesorgt, dass Mickey und Pepito dank dramaturgischer ENTSCHEIDUNG des Spielleiters gerade bei just der Lagerhalle nach dem Rechten schauen, in die die Spielercharaktere gerade einbrechen.
Die INTERAKTIONSMASCHINE wiederum hat womöglich dafür gesorgt, dass sie aufgrund von aktueller Personalknappheit keine weiteren Goons dabei haben, und die VERHALTENSSTEURUNG in Form der Spielregeln kontrolliert, dass sie nicht wie allwissende Avatare des Spielleiters handeln. Womöglich sogar die SC überhaupt nicht bemerken, sich aber im Falle einer Konfrontation nicht wie irgendwelche gesichtslosen Goons benehmen, sondern eben erkennbar Mickey und Pepito sind statt Schläger 1 und Schläger 2.
Über den Verlauf einer längeren Geschichte oder einer Kampagne sorgen solche Mechanismen auch dafür, dass die Spieler früher oder später eine Konfrontation mit Mickey und Pepito haben werden, sofern das erwünscht ist. Es ergibt sich dann von ganz allein, weil die beiden ständig irgendwo den SC in die Quere kommen. Da es aber organisch geschieht, ist kein typisches Railroading nötig.
Zusammenfassung
Wie entscheidet ein NSC, was er tut? Willkürlich? Müssen Spielleiter und Spielleiterinnen das immer spontan ausarbeiten? Eine mögliche Idee wäre ein Schema! Lassen wir uns dabei von Alien: Isolation inspirieren, einem Computerspiel, bei dem ein NSC besonders wichtig ist: der namensgebende Xenomorph. Handelt das Alien nicht glaubwürdig oder gar untypisch, bricht das ganze Spiel zusammen. Die Charakterisierung des Aliens ist deshalb sehr wichtig!
Das übermächtige Alien ist zwar für die Protagonistin des Spiels nicht zu bezwingen – aber es darf auch nicht tatsächlich übermächtig sein. Darum gibt es gleich mehrere KI-Routinen, die sein Verhalten steuern. Als Spielleitung hast du aber nicht die Rechenkraft eines Computers. Einfache Vorplanungen helfen darum, deine NSC mit Persönlichkeit zu versehen, ohne sie hochkomplex werden zu lassen. Ähnlich den KI-Routinen von Alien: Isolation.
Die Director-KI sorgt dafür, dass das Alien immer wieder an Orten auftaucht, wo man es auch treffen kann. Und zwar immer wieder auch an Orten, wo die Protagonistin hin muss! So ist gewährleistet, dass man immer wieder auf das Alien trifft – ziemlich wichtig in einem Alien-Spiel!
Die Director-KI hat aber auch ein Auge darauf, Spielende nicht zu überfordern. Sind sie mies ausgerüstet oder werden sie zu nervös, dann dreht die KI an den Schrauben: Das Alien verliert schneller das Interesse oder ist einfach etwas weniger gründlich beim Suchen. Nur: betrogen wird hier nicht. Das Alien ist immer noch das Alien. Es tendiert nur für ein Weilchen dazu, etwas weniger intensiv zu sein.
Warum ist all das wichtig? Dramaturgie ist nicht regelbar! Wer das Spiel leitet und auch die Mitspielenden am Tisch müssen hier ganz klar Entscheidungen treffen. Die Director-KI, das ist hier der Spielleiter oder die Spielleiterin! Wer leitet, der muss den NSC die Gelegenheit geben, in Erscheinung zu treten. Der Zufall kann eine Rolle spielen, darf das Spiel aber nicht verschlechtern. „Schubse“ deine „Aliens“ (egal wer das nun ist) darum regelmäßig an Orte, wo die Spielercharaktere sie auch treffen können!
Treffen die Spielercharaktere erst einmal auf deine NSC, dann kannst du auf vorbereitete Schemata zurückgreifen. Eine Art Verhaltenssteuerung, um Nebencharakteren den Schein einer Persönlichkeit zu geben, ohne dass du lange überlegen musst. Mickey zieht z.B. immer dann sein Messer, wenn er zu verlieren droht oder jemand eine Waffe zückt – damit ist klar, wann er eskaliert. Und dass er es tut!
Einige einfache Merksätze helfen hier, um Nebencharakteren eine wiedererkennbare Persönlichkeit zu geben, ohne dass das groß in die Tiefe geht: „Hält immer sein Wort“, „Verabscheut Gewalt gegen Kinder“, „Flieht niemals freiwillig aus einer Konfrontation“ – und schon hast du grobe Anhaltspunkte. Eigentlich ist das nur eine Variante des Konzepts von Labels, wie wir es schon einmal vorgestellt haben.
Es gibt also viele Wege, seine Nebencharaktere zu verwalten, ohne dass sie völlig gesichtslos werden oder schwierig zu verwalten sind.