Ist der Plot festgefahren? Sind die Spieler auf dem Holzweg, weil sie einen wichtigen Hinweis übersehen haben? Fehlt das gewisse Etwas? Dann hilft kreativer Input! Ist allerdings gar nicht so leicht, mal eben tolle Ideen zu haben, die das dröge Einerlei durchbrechen, in das man sich hineinmanövriert hat.
Brainstorming ist eine klassische Methode, um auf neue Ideen zu kommen oder die Richtung zu wechseln, in die man gerade steuert. Nur ist es nicht besonders toll, extra das Spiel zu pausieren und zu diskutieren, wie sich die Spielsitzung gerade ein wenig dröge anfühlt und aufgepeppt werden muss. Zudem muss sich der Spielleiter dabei die Blöße geben, zuzugeben, dass er sich verfranzt hat. Darunter wiederum leidet schnell das Spielgefühl und vor allem die atmosphärische Tiefe der Geschichte beim Pen & Paper Rollenspiel.
Eine zugegebenermaßen etwas spezielle Lösung, die mir als Spieler in einer Kampagne mit Mystik-Elementen gute Dienste geleistet hat, um die Geschichte voranzutreiben und mitzugestalten, sind Tarotkarten. Mit ihrer Hilfe habe ich als Spieler die Geschichte „durchgemischt“ und dem Spielleiter neuen Input gegeben, um Blockaden zu brechen oder vage Warnungen vor gefährlichen Situationen ausgesprochen.
Die Ausgangslage: Mystery-Piraten!
Was haben wir genau gespielt? Wir schreiben das Jahr 1699. Der Kern der Kampagne war eine Familie von Nobodys aus Irland, die durch einen Schicksalsschlag ihr kleines Handelsschiff verlor. Der Vater kam zu Tode und die Mutter verschwand. Zusammen mit dem versoffenen Onkel ging es dann in die Neue Welt, wo sie durch Glück wieder an ein seetaugliches Segelboot kamen und in die Piraterie hineingerutscht sind. Das Ganze war im Prinzip ein bisschen wie der erste Pirates of the Caribbean-Film: Piraten mit Mystery- und Fantasy-Einschlag. Ganz im Sinne von „Was wäre, wenn ein Teil des üblichen Seemannsgarns wahr wäre?“. Die Kampagne war recht offen. Es gab gewisse Ziele, denen wir alle gemeinsam nachjagten, aber grundsätzlich baute das Spiel auf der simplen Prämisse „Wir haben ein Schiff“ auf, sie war also eine sehr sandboxmäßige Seefahrtskampagne.
Mein Charakter hatte ein latentes magisches Talent aufgrund einer alten, keltischen Blutlinie. Das beschränkte sich de facto auf zwei Dinge: Je nach Tag im Monat ein wenig Kontrolle über den Wind und eine Affinität zu den „alten mystischen Dingen“, dazu gehörte eben auch das Wahrsagen.
Um das zu spielen, habe ich mir ein wundervolles Tarotdeck zugelegt, welches perfekt zu meinem Charakter passte. Das hatte ich dann beim Spielen immer an meiner Seite. Mithilfe des Decks habe ich zwei Dinge getan: meine eigenen Spielentscheidungen mit einem „drama-orientierten Zufallsfaktor“ versehen und anderen Charakteren die Karten gelegt.
Entscheidungen aufpeppen
Immer das Gleiche entscheiden ist langweilig. Aber irgendwie muss man ja auf „Neues“ kommen. Darum hab ich immer wieder beiläufig Karten vom Stapel abgehoben und überlegt, ob ich das auf einen Spielercharakter, die aktuelle Szene oder einen NSC anwenden konnte. Dabei habe ich natürlich nicht tatsächlich den Karten die Entscheidung überlassen. Ich habe meistens, wenn gerade niemand hinschaute einige abgehoben, bis ich eine fand, die auch passte und diese dann bald darauf einem Charakter vorgelegt oder eine dazu passende Warnung ausgesprochen. Beim „richtigen“ Tarot mag man jetzt laut „Betrug!“ rufen, aber hier es geht darum, Impulse zu generieren. Da schießt man mit Schrot auf Enten und guckt, was trifft.
Als Interpretationshilfe hatte ich eine klassische Tabelle mit Tarot-Adjektiven (Download unten). Also Dinge wie „Reichtum“, „Süden“ oder „Versöhnung“ etc. Stand beispielsweise die Frage im Raum, welchen Hafen wir als Nächstes anfuhren, und wir brüteten über der Seekarte, dann nutzte ich einzelne Karten, um gewisse Entscheidungen zu forcieren, unerwartete Entscheidungen zu begründen oder Probleme und Gefahren zu prophezeien.
Die anderen Charaktere und NSC haben darauf reagiert, und somit war es ein Kickstarter für eine Charakterdynamik, die der Spielleiter wiederum aufgreifen konnte, um es „anders wahr werden zu lassen, als wir dachten“ – oder um Dingen, die er ohnehin bereits geplant hatte, einen besonders mystischen Twist zu verpassen. Gleichzeitig bot es einen Ingame-Gesprächsaufhänger, um über die aktuelle Situation zu sprechen. Das gab gleichzeitig dem Spielleiter Informationen, was wir wussten und wie wir die aktuelle Situation verstanden und wahrnahmen.
Ad hoc Storyboard
Die zweite Methode, wie ich die Tarotkarten nutzte, war, sie tatsächlich als Tarot zu legen. Das habe ich nur alle paar Spielsitzungen gemacht, und es war immer auf Personen bezogen. Manchmal, bevor wir in ein größeres Abenteuer aufbrachen, manchmal am Anfang von Plotsträngen. Am Anfang eines Sandbox-Plots ist schließlich sehr viel noch offen, und gerade, wenn man als Spieler viel Gestaltungsmacht hat, läuft man Gefahr, sich selber zu langweilen – eine visuelle Hilfe ist dann nützlich.
Ein Storyboard ist eine Art Cartoon, der den Ablauf einer Geschichte mit Schlüsselszenen erfasst. Filmemacher lassen Storyboards erstellen, basierend auf dem Drehbuch, damit sie ihre Szenen und Einstellungen genau planen können. Schließlich kostet jeder Drehtag beim Film sehr viel Geld und benötigt die Arbeit von vielen Leuten. Das Storyboard hilft dabei, effizient zu arbeiten und Fehltritte zu vermeiden.
Genau das kann auch ein Tarotdeck. Die Karten im Tarot sind deswegen so brauchbar dafür, weil sie sehr allgemeine Konzepte anstreben und auf eine nützliche Art und Weise miteinander verknüpft sind. Das Legen von Tarot ist eigentlich immer das Erzählen einer kleinen Geschichte. Man fischt mit einigen allgemeinen Begriffen im Trüben, bis derjenige, dem man die Karten legt, sie mit etwas in Verbindung bringt, das eine Bedeutung für ihn hat.
Vorhersagen, Warnungen und Aufhänger
Genau so haben wir das dann auch im Rollenspiel gemacht. Was könnte geschehen, wenn Keena in die Kerkerfestung geht, um ihren Freund zu befreien? Es produziert keine festen Schienen, aber es gibt einen groben Rahmen vor, den man mit Inhalt füllen kann und dessen Schlüsselelemente universell funktionieren. Manchmal haben wir das auch vor größeren Plotsträngen für alle Charaktere gemacht, und jeder hat hineininterpretiert, was er für richtig hielt.
Manchmal führte das auch dazu, dass Charaktere etwas gemacht haben, weil sie „die Prophezeiung aus den Karten“ in einer Szene scheinbar wiedererkannt hatten. Natürlich haben lediglich die Spieler den Aufhänger benutzt, aber sie hatten bereits ein paar Ideen und dramatische Deutungsmuster mit in den Plot genommen.
Für den Spielleiter hat es den Vorteil, dass er bestimmte Facetten im Voraus ausloten kann. Anhand der Reaktionen der Spieler und der Interaktion ihrer Charaktere kann er ableiten, welche Komplikationen sie spannend fänden und welche sie einfach nur tierisch nerven würden. Rollenspiel lebt von Dramatisierung. Ebenso hat man nur begrenzt Zeit zum Spielen. Auf diese Art Fehler zu vermeiden und ein möglichst spannendes und befriedigendes Spiel zu erzielen, ist also ein Gewinn für alle Beteiligten.
Was du mitbringen musst, damit es funktioniert
Das Erste, was sein muss, ist technische Vorbereitung. Du brauchst ein schickes Tarotdeck – logisch, nicht wahr? Es sollte zum Spielgefühl der Kampagne passen, damit du es auch in der Welt verwenden kannst. Ich verwende das „Druicraft Tarot“, das keltische Motive und Konzepte des modernen Paganismus und der Wicca-Religion aufgreift. Alle Beispielbilder zeigen darum auch dieses Tarotdeck. Es gibt sicher auch andere die gut funktionieren aber in meinem Fall wollte ich eines ohne christliche Bezüge.
Danach musst du dir passende Deutungshilfen anfertigen oder welche finden (ich fand keine). Dabei kannst du ruhig verschiedene Tarotsysteme oder Deutungssysteme mischen – du prophezeist ja nicht tatsächlich die Zukunft. Der Einfachheit halber habe ich meine alte Tabelle weiter unten zum Download bereitgestellt.
Reales Tarot als Vorlage
Zusätzlich musst du natürlich auch ein Schema haben, wie du die Karten legst. Entweder du nutzt eines der üblichen Muster zum Hinlegen oder bastelst dir was Eigenes. Für mich hat es zum „Storyboarden“ am besten funktioniert, immer sieben Karten zu benutzen. Dabei habe ich alle Karten umgekehrt auf den Tisch gelegt. Eine Karte kam in die Mitte und sechs Karten kamen im Kreis außen herum. Die Karte in der Mitte repräsentierte den Spielercharakter oder den NSC, um den es ging. Die sechs Karten außen herum hab ich von rechts oben nach links oben im Uhrzeigersinn benutzt, um eine vage Geschichte zu spinnen, die zur aktuellen Situation oder zum anstehenden Abenteuer passte – und damit hatte ich ein Storyboard.
Tarot hat in der Realität eine lange Tradition und dementsprechend zahlreiche Riten, Gebräuche und Regeln, aber letztendlich ist es eben Magie, und Magie ist frei erfunden. Trotzdem kannst du die Abläufe und Riten direkt kopieren. Für dein Spiel kannst du aber zusätzlich genau die Magie und die Regeln erfinden, die für dich am nützlichsten und einfachsten sind.
Neben der technischen Umsetzung brauchst du auch ein Gefühl für Spannung. Du musst das Ganze ja interpretieren. Glücklicherweise können die Mitspieler helfen, indem man sie einfach mit genug Adjektiven und Wörtern aus der Tabelle bewirft und ihre Reaktionen nutzt. Man kann sich da gut am „Cold Reading“ von realen „Wahrsagern“ orientieren. Am besten sollte man seine Rolle als Wahrsager/in dabei ernst nehmen und ruhig ein bisschen mysteriös nachfragen – nicht einfach nur von der Tabelle ablesen. Gibt ja genug Filme, wo man kopieren kann.
Und sonst?
Deine Mitspieler sind ebenso wichtig wie du selbst, damit das Ganze funktioniert. Jeder in der Gruppe muss das „lebendige Schicksal“ als glaubwürdig betrachten, sonst wird es nichts werden. Darum funktioniert es in Hightech-Kampagnen selbstredend weniger gut als in der Karibik 1699.
Du trägst zudem Verantwortung für deine Mitspieler. Diese müssen dir also vertrauen können, dass du ihnen keinen Mumpitz andichtest. Das Tarot dient zur Inspiration und zur Bereicherung, nicht, um den Weg zu diktieren oder Mitspielende zu schikanieren. Am besten betrachtest du dich bei der gesamten Seite als am unwichtigsten. Überlege, welche spannenden Verwicklungen andere Charaktere, die nicht dein eigener sind, betreffen könnten – dann hast du auch keine Interessenkonflikte. Du wirst um die Ecke sowieso wieder hineingezogen. Ebenso kannst du allerdings Impulsentscheidungen damit rechtfertigen, wenn das Spiel zum Beispiel langsam wird, weil ihr zu sehr auf Nummer sicher gehen wollt.
Die Karten können auch benutzt werden, um beispielsweise einer gesuchten Person Merkmale zu verpassen – und sei es, dass es heißt: „Die Person die wir suchen, hat irgendwas mit ‚Führung‘ zu tun, das sagt mir die Sechs der Stäbe!“
Was die Karten nicht leisten können
Was Tarot nicht kann, ist, von Personen losgelöste Ereignisketten zu beschreiben. Tarot braucht Akteure; darauf ist es zugeschnitten. Außerdem hilft es, die Dichtung zu fokussieren, wenn man jemanden eindeutig als die Figur festlegt, um die es gerade geht. Derjenige wird zum Dreh- und Angelpunkt.
Die Karten sind jedoch völlig ungeeignet für spezifische, kleinteilige Fragen. Tarot generiert Schlagwörter und eine Reihenfolge. Mehr nicht. „Was ist hinter dieser Tür?“ geht vielleicht noch, indem man eine einzelne Karte zückt. Aber wenn man das siebenmal hintereinander machen muss, bis man etwas hat, was auch passt, dann funktioniert es nicht. Es funktioniert allerdings, wenn der Spielleiter die Karten türkt.
Ebenfalls sinnlos ist das Konzept bei Geschichten, die sich um kleinteilige Geschehnisse drehen, wo klar ist, worauf es hinauslaufen soll. Je weniger Geschichte erst im Spiel entsteht und je mehr sich nur noch um den eigentlichen Ablauf dreht, desto voller ist das Storyboard des Spielleiters bereits.
Die Karten und der Spielleiter
Der Spielleiter ist neben dir selbst besonders gefordert. Er muss schließlich einen Plotablauf generieren, der zumindest grob die Eckpunkte der Prophezeiung abdeckt. Das Wahrsagen darf schließlich nicht zu oft völlig danebenliegen. Es darf aber ganz anders kommen, als man denkt. „Tod“ kann bedeuten, dass derjenige stirbt, um den es ging. Es kann aber ebenso heißen, dass jemand in seiner Nähe stirbt. Oder er sich verkleidet und unter falschem Namen untertaucht…
Die Spieler können dem Spielleiter allerdings helfen, indem ihre Charaktere ganz einfach aussprechen, was sie sich denken, was es bedeuten könnte. Das gibt dem SL dann frische Ideen, die er übernehmen, anpassen oder als reine Inspiration nutzen kann. Auf jeden Fall weiß er dann, was die Spieler sich ungefähr erhoffen. Das hilft, denn gebrochene Erwartungen sind eine wichtige Quelle für Frust – Priming und Framing lassen grüßen.
Einflussmöglichkeit für den Spielleiter
Das Tarot-Storyboard kann der Spielleiter entweder benutzen, um kurzfristige Ereignisse grob zu planen oder um langfristige Abläufe danach zu ordnen. Es gab uns jedoch immer ein Gefühl von aktiver Mitgestaltung und sorgte gleichzeitig für die nötige Ordnung, damit wir in der Sandbox nicht planlos herumtorkelten, ohne so richtig zu wissen, wo es hingehen sollte.
Unser Spielleiter hat (selten) auch die Karten „manipuliert“. Entweder, indem er die Karten vorgemischt und damit festgelegt hat, welche Karten obenauf lagen, oder indem er NSC-Wahrsager(innen) ins Spiel gebracht hat. Das Konzept des Wahrsagens und des wirkenden Schicksals war ja bereits etabliert, es war also nur naheliegend, dass auch andere Leute die Karten legten.
In diesem Fall wurden dann wir als Spieler gefordert, die Motivationen, Ziele und Befürchtungen unserer Charaktere offenzulegen. Das war immer dann nützlich, wenn der Spielleiter eine Gelegenheit erzeugen wollte, um persönliche Geschichten zu stricken, oder wenn ein Charakter stärker charakterisiert werden sollte. Damit ergaben sich schließlich Gelegenheiten, um über den eigenen Charakter zu sprechen, ohne dass es ein seltsamer Monolog wurde, denn es fand immer im Zuge einer Fragestellung und eines konkreten Kontexts statt.
Zusammenfassung
Tarotkarten können eine nützliche Hilfe sein, um in sandboxlastigen Kampagnen mit großer Spielerfreiheit zu helfen, Blockaden und Orientierungslosigkeit zu überwinden. Indem man sie als Storyboard benutzt, gibt man dem Spielleiter Ideen, wie es weitergehen könnte. Die Spieler erhalten so auch Gelegenheit, über ihre Ideen und Erwartungen zu sprechen, ohne dass sie ins Offplay-Gespräch abdriften müssen.
Zusätzlich kann man anhand der Karten auch Charakterentscheidungen mit einem gewissen Zufallsfaktor versehen, indem man sie als Kickstarter für Ideen, Handlungen oder Entscheidungen nimmt.
Download & Tarotkarten
Download: Meine Interpretationshilfe für Tarokarten im Rollenspiel (Englisch)