Ich spiele Rollenspiele, seit ich 13 Jahre alt bin. Fast genauso lange bin ich auch vorrangig leidenschaftlicher Spielleiter. Für mich ist Rollenspiel nicht einfach irgendwas, das ich so mache. Es ist für mich nicht nur irgendein Hobby. Rollenspiele haben geprägt, wie ich die Welt sehe, und die Welt hat im Gegenzug geprägt, wie ich Rollenspiele spiele.
Linsen und Blickwinkel
Wir alle betrachten die Welt durch bestimmte Linsen. Wir haben mehrere davon, und durch einige gucken wir die ganze Zeit, durch andere nur gelegentlich. Wir sehen Dinge anders auf der Arbeit als zu Hause, anders als Tourist denn als Einheimischer. Der Betrachtungswinkel verändert die Bewertung von allem, was wir erleben. Eine meiner primären Linsen ist die eines Spielleiters, gefolgt von der eines Rollenspielers im Allgemeinen. Genauso, wie ich als Autor niemals aufhöre, Autor zu sein, und auch als Künstler immer Künstler bin, bleibe ich zu jeder Zeit auch Spielleiter. Beim Essen, unter der Dusche, beim Fernsehen. Viele Spielende greifen wiederum manchmal auf ihre Charaktere zurück, wenn sie in einer Situation nicht weiterwissen („Was würde Alrik tun?“). Mit dieser Wechselwirkung und dem Rollenspieler-Mindset als Linse bin ich also nicht allein. Warum das toll und nützlich ist, darüber spreche ich in der zweiten Hälfte des Artikels.
Legosteine aus Erinnerungen
Wenn ich zwei Menschen auf der Straße streiten sehe, dann merke ich mir interessante Aspekte davon, die ich als Spielleiter verwenden kann. Oder gern auch als Spieler. Überschlagen sich die Worte von einem der Streitenden, aufgrund der Aufregung? Um was dreht sich der Streit? Welche Beleidigungen fallen? Solche Dinge interessieren mich. Ich suche nicht danach, aber ich sehe sie durch die Linse meiner Weltbetrachtung. Irgendwann verwende ich sie dann vielleicht im Spiel. Sie sind meine Legosteine, aus denen ich Geschichten baue. Nur, dass sie nicht aus Plastik geformt sind, sondern ich mir Momente und Aspekte der Wirklichkeit merke. Diese Erinnerungen kann ich immer wieder neu kombinieren und zu kleinen Skulpturen verbauen.
Was sind Linsen?
Wir sehen die Welt nicht allein mit unseren Augen, sondern nur mithilfe unserer Augen. Die schwenkbaren Biokameras in unserem Kopf empfangen nur Lichtreize, gebündelt durch eine optische Linse. Zu einem richtigen Bild wird es erst in unserem Gehirn. Und dort geht es durch weitere Linsen: mentale Linsen. Der Verstand ordnet die Eindrücke und gibt ihnen eine Form – er gestaltet die Welt und macht daraus Bilder.
Schwerpunkte
Einige unserer Linsen definieren uns mehr als andere. Den meisten von uns fällt das gar nicht so sehr auf, auch wenn wir es manchmal sogar aussprechen. „Grundsätzlich wäre es mir ja egal, was die Landespolitik da treibt, aber als Mutter finde ich…!“ ist ein Beispiel für so einen Fall.
Wenn wir etwas bewusst durch eine bestimmte Linse betrachten, dann verändert sich auch, wie wir bestimmte Faktoren gewichten. Auch im Beruf passiert das ständig. Der Sicherheitsbeauftragte beurteilt eine Projektplanung nach Sicherheitsaspekten, wohingegen die Chefplanerin vor allem auf Umsetzbarkeit und Kosten achten muss. Im Beruf könnten beide über etwaige Sicherheitsaspekte streiten, auch wenn sie privat überhaupt keinen Konflikt hätten. Nicht nur durch ihre unterschiedlichen Aufgaben, sondern auch durch ihre Linsen.
Vielleicht versteht der Sicherheitsbeauftragte ja den Wunsch, an der Sicherheit zu sparen. Vielleicht würde er, sähe er das Projekt durch die Augen der Chefplanerin, sogar an den gleichen Punkten sparen, wie sie es gerne täte. Und vielleicht sieht sie seine Bedenken auf Anhieb überhaupt nicht, weil sie mental buchstäblich Scheuklappen aufhat. Man spricht da ja auch von Tunnelblick. Sie beide haben eine Rolle, und damit gehen Sichtweisen und Prioritäten einher.
Manche Linsen sind wichtiger als andere
Wir haben viele Linsen, aber manche von ihnen sind wichtiger als andere. Die meisten Menschen haben zwei bis drei dominante Linsen: Beruf und Privat, optional: Beziehung. Das eine blutet dabei auch in das andere über, sodass eine akribische Juristin vermutlich auch zu Hause viele Dinge durch die Linse einer Juristin betrachtet und ihr Auge für Details und Zusammenhänge anwendet. Oder ein begeisterter Gärtner guckt sich überall an, in welchem Zustand die Pflanzen dort sind und was überhaupt an Pflanzen ausgewählt wurde. Soldaten, die im Krieg waren, suchen oft unablässig nach Orten, wo man gut Deckung nehmen könnte, oder nach Verstecken, die einem Scharfschützen einen guten Überblick böten. Vieles davon ist unbewusst. Wenn es allzu bewusst geschieht, ist es oft Teil einer posttraumatischen Störung. Im Kern aber ist es eine Linse, die den heimgekehrten Soldaten auch in Friedenszeiten und im Alltag noch lange begleitet.
Weltanschauung vs. Tätigkeit
Grob unterscheiden kann man dabei zwischen weltanschaulichen Linsen, Tätigkeitslinsen und fundamentalen Linsen. Die meisten Menschen haben beispielsweise die Linse „Privat“. Nur extreme Workaholics haben das nicht. Unser Blick als Privatperson auf die Welt ist eine fundamentale Linse. Ein Maurer hat dazu aber zum Beispiel noch die Linse eines Maurers. Wenn er arbeitet oder wenn er im Rahmen seines Arbeits-Mindsets denkt, dann tut er das durch die Linse des Maurers. Er hört damit aber weitgehend auf, wenn er Feierabend macht. Außerdem hat diese Linse einen beschränkten Fokus. Wenn er ein Fußballspiel guckt, dann tut er das nicht als Maurer. Wenn er einen Rinderbraten isst, dann wird er das vermutlich auch nicht als Maurer tun.
Weltanschauliche Linsen sind da anders. Sie prägen uns nicht zwingend tiefer gehend, aber umfassender. Sie sind vor allem mit anderen Linsen kombinierbar. Ein Kommunist, der auch Bauarbeiter ist, kann auf dem Bau gleichzeitig durch beide Linsen blicken, und wenn er Feierabend macht, dann lässt er die Bauarbeiterlinse vielleicht mit dem Schutzhelm am Haken, nimmt die Linse des Kommunisten aber mit in seine Freizeit.
Die Linse des Rollenspielers, speziell die des Spielleiters, ist dabei eine ganz besondere, denn sie taugt durchaus zu einer weltanschaulichen Linse, so wie die eines Künstlers! Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um etwas dafür zu werben.
Warum sind Linsen gut?
Die Linsen, durch die wir die Welt sehen, wirken nicht nur wie Filter. Sie fungieren auch wie zusätzliche Ziel- und Suchsysteme. Die richtige Linse kann uns auf Dinge aufmerksam machen, die wir ohne sie nie bemerkt hätten. Und nur was wir bemerken und worüber wir nachdenken, kann unser Denken und unsere Fantasie anregen.
Weltanschauliche Linsen haben dabei eine immense Macht, denn sie können uns unablässig begleiten. Einige davon machen uns blind für bestimmte Dinge oder fokussieren unser Denken in übermäßiger Weise. Jeder, der einen religiösen oder ideologischen Eiferer kennt, weiß, wie ätzend das sein kann.
Die Spielleiter-Linse – das Auge der Götter!
Rollenspieler, bzw. Spielleiter, ist für mich eine Linse, die keinerlei Nachteile hat. Der Grund dafür ist so einfach, wie er vermessen klingt: Es sind die Linsen von Göttern. Spieler agieren im Großen und Ganzen, über längere Zeit betrachtet, wie strippenziehende Halbgötter, die das Schicksal einzelner Helden lenken. Spielleiter gehen direkt noch einen Schritt darüber hinaus und agieren im Rahmen des Spieles wie Götter. Manche sind bösartige Götter, andere wahnsinnige Chaosgötzen, und wieder andere sind benevolent. Je nach Spielvorlieben greift die Spielleitung mal mehr ins Spiel ein, mal weniger. Aber sie agiert immer aus einer Position nahezu unbegrenzter, kreativer Macht heraus.
Versteht mich nicht falsch. Ich bin nicht verrückt und halte mich auch nicht für einen Gott. Im Rahmen des Spieles jedoch, in dem ich die Rolle der Spielleitung einnehme, bin ich einer. Da braucht es dann keine weitere Wahnvorstellung mehr zu. Das Wetter ist, wie ich es haben will. Menschen leben und sterben nach meinem Gusto. Oder im Rahmen der Regeln, auf deren Anwendung und Auswahl ich jedoch ebenfalls einen großen Einfluss habe. Je nach System und Gruppe gibt es Regeln, an die auch ich gebunden bin. Einige sind gamistische Regeln, also Spielregeln. Andere sind soziale Kontrakte. Absprachen, Normen und Übereinkünfte. Dennoch ist die Machtfülle sogar eines stark reglementierten und eingeschränkten Spielleiters immens. Man muss da auch nicht zu sehr am monotheistischen Götterbild kleben. Ich kann auch die Macht eines Gottes haben, wenn ich nicht bin wie Jahwe, Allah oder Aton.
Die Linse eines Gottes
Die Welt durch die Linse eines Gottes zu sehen, ist sehr nützlich, denn Götter dürfen sich für buchstäblich alles interessieren. Besonders, wenn sie nicht unnötig aspektiert sind. Aber als Spielleiter agiere ich ja nicht als Kriegsgott oder als Gott der Meere. Ich agiere als Übergottheit, die im Spiel sogar über den Göttern steht. Zusätzlich zu allen anderen Linsen, die ich habe. Vor allem muss ich als Spielleiter noch mehr als die Spielenden ständig die Perspektive wechseln – auch zu solchen Personen, die mir an sich stark widerstreben. Als realer Mensch bedeutet dies, dass meine Linse den Blick auf fast jedes Thema ermöglicht.
Eine praktische Ausrede, um sich zu interessieren
Das ist ein Vorteil, weil wir Menschen dazu neigen, Ausreden zu benötigen. Wir brauchen Gründe, um Dinge zu tun bzw. uns zuzugestehen, dass wir Dinge tun dürfen – gerade als Erwachsene. Einen Grund zu haben, etwas zu tun, verleiht uns Sicherheit. Ob das Einbildung ist, spielt dafür keine Rolle.
Ein Gott darf sich für alles interessieren, und obgleich ich selbst nicht tatsächlich einer bin, gibt mir die Rollenspieler-Linse den Blick auf die Welt, als ob ich einer wäre. Es erlaubt mir, alles zu betrachten, mich für alles zu interessieren und ausnahmslos alles zu beobachten. Daher ist mir eigentlich auch nie wirklich langweilig.
Selbst wenn ich etwas tue, das für sich genommen nicht spannend ist. Busfahrten, Bahnfahrten, eine Straße entlanggehen. Andere hören dabei Musik, lesen oder starren auf ihr Smartphone. Ich kann das tun, wenn ich es möchte, aber ich muss nicht. Ich schaue mir auch mal an, welche Beschaffenheit der Fußgängerwegbelag hat, wie viele Fahrräder ich sehe, ob die Häuser Balkone haben und in welche Richtung ich fliehen würde, wenn auf einmal eine Schießerei ausbräche oder Orks um die Ecke kämen. Wenn ich jemanden sehe, der besonders interessant aussieht, sei es Kleidung oder weil ich ihn als hässlich oder hübsch wahrnehme, dann versuche ich, festzumachen, woran das genau liegt und ob ich dieses Element memorisieren kann, um es später im Spiel zu verwenden.
Ohne Kontext kann ich mir nichts merken!
Nicht nur, dass es eine Ausrede für mich gibt, alles genauer zu betrachten, worauf mein Blick so fällt. Es ist auch ein guter Grund, sich diese Dinge zu merken. So leicht ist das schließlich gar nicht. Was vergessen wir nicht alles für Zeug in unserem Leben? Wie leicht wir Dinge vergessen, hängt auch damit zusammen, wie nützlich und bedeutsam sie uns erscheinen. Die Linse meiner Betrachtung färbt dabei meinen Blick auf die Welt auch anhaltend in meinen Erinnerungen. Sie sorgt so mit dafür, dass ich mir Dinge besser merken kann, die später noch für mich von Nutzen sein werden.
Falls du es nicht sowieso schon tust, probier es mal aus! Die Welt ist voll mit faszinierenden Details, inspirierenden Facetten und bemerkenswerten Absonderlichkeiten. Was dir heute belanglos und langweilig erscheint, das könnte sich übermorgen oder in ein paar Jahren noch als entscheidender Funke erweisen, der im richtigen Moment das Feuer der Erleuchtung entfacht. Jede Charakteridee, jedes Abenteuer und jede Spielwelt könnte die Ausrede sein, die du dafür brauchst.
Zusammenfassung
Wie wir die Welt sehen, hängt nicht nur an unseren Augen. Die richtige Frage, der richtige Kontext und eben auch, durch welche Linse wir die Welt interpretieren, ändern, wie wir sie wahrnehmen.
Als Spielleiter, aber auch als Spieler kann alles für mich interessant sein, weil ich wie ein Gott in meiner eigenen Welt agiere und dafür Inspiration brauche. Statt durch die Linse meines Berufs oder meiner politischen Überzeugungen zu sehen, bietet mir das Spielleiten die nötige „Ausrede“, um mich jederzeit von meinen eigenen Linsen und Rollen frei zu machen, um Dinge aus einer neutraleren Perspektive zu sehen. Aus dem, was ich sehe, gieße ich mentale Legosteine, die ich danach nutzen kann. Jede Macke, jedes Detail kann spannend sein, wenn man es in den richtigen Kontext rückt. Und später habe ich einen großen Fundus, aus dem ich Szenen stricken kann!
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