Wir interagieren im Rollenspiel auf eine ganz besondere Art und Weise mit der Geschichte. Wir erleben die Story, gestalten sie aber auch mit. Wir sind die Charaktere, spielen aber auch ein Spiel. Wir hören, sehen, riechen und schmecken die Welt nicht, müssen für unseren Charakter aber Entscheidungen treffen, als wären wir mittendrin. Wir entscheiden nicht mit dem Herzen unseres Charakters und auch nicht mit seinem Geist. Der Spieler ist als Filter immer präsent.
Diese Wechselwirkung von Spieler und Charakter wird oft unterschätzt und manchmal sogar schlichtweg verleugnet. Manchmal wird es auch als „metagaming“ oder „Problem schlechter Rollenspieler“ abgetan.
Vielleicht hattet ihr das auch schon einmal, dass ihr in einem Abenteuer in eine Situation kamt, wo eine Ungerechtigkeit geschah oder Charaktere etwas gesagt haben, das euch stinkwütend machte. Ein Moment, wo euch, dem Spieler oder der Spielerin, das Adrenalin in den Kopf schoss. Plötzlich gab es nur noch einen Gedanken: „Das Schwein! Na warte, dem zeig ichs!“ Zu genau diesem Zeitpunkt ist es vermutlich nicht so, dass ihr nur ganz neutral euren Charakter spielt. Auch wenn ihr euer Bestes gebt, um seine Gefühle, Gedanken und Handlungen entsprechend seiner Persönlichkeit zu steuern, handelt ihr dann trotzdem im Affekt. Ihr seid regelmäßig voll dabei! Dann liegt zwischen euch und der Spielwelt nur noch ein dünner Schleier, der den Charakter von euch trennt.
Der Spieler ist immer der Entscheider
Das Beispiel des wütenden Spielers soll eine Sache verdeutlichen: Spieler und Charakter sind beide am Spiel beteiligt. Je mehr der Charakter ein Avatar des Spielers ist, mit dem er in die fiktive Welt hineinwirkt, desto unproblematischer ist das. In einer reinen Kampfkampagne mit hohem Tabletopanteil ist das sogar ein wichtiger Teil des Spielerlebnisses. Der Bösewicht macht dich wütend? Schlag ihn tot! Wofür spielst du sonst einen Krieger?
Wenn ihr aber eine hohe Dramadichte habt oder vielleicht sogar aktive Storygestaltung nach den klassischen Kriterien der Geschichtenerzählung betreibt, dann ist das etwas ganz anderes. Wenn ihr versucht, einer Spannungskurve innerhalb der Geschichte zu folgen, dann müsst ihr mehr darauf achten, was euer Charakter tut. In diesem Fall liegt mehr Gewicht darauf, dass ihr euch stärker bewusst werdet, wie ihr die Geschichte beeinflusst. Das beinhaltet, dass ihr genau dann, wenn ihr besonders aufgebracht seid, Entscheidungen treffen müsst! Manchmal bedeutet das auch, dass euer Charakter hier nichts tun kann oder dass es sogar die Geschichte spannender macht, wenn ihr versagt! Eine Art damit umzugehen ist das Method-Acting-Konzept wie es auch Ian McKellan anwendet.
Darum ist es wichtig, zu verstehen, dass ihr als Spieler der Prozessor seid. Ihr seid die Person, deren Moral, Bildung und Vorstellung der Welt alles steuert. Schlussendlich entscheidet ihr darüber, ob euer Charakter der Vision der gemeinsamen Geschichte gerecht werden kann. Diese Thematik wird in den nächsten Artikeln immer wieder eine Rolle spielen. Hier möchte ich erst einmal auf einen ganz spezifischen Aspekt dieses Problems eingehen: Sinneseindrücke.
Welche Rolle spielen Sinneseindrücke im Pen & Paper?
Sinneseindrücke sind die grundsätzliche Art, wie wir Menschen die Welt wahrnehmen. Darum ist es wichtig, zu verstehen, welche Limitationen die „Simulation“ hat, in der unsere Rollenspielgeschichten stattfinden (echte Simulation kann sowieso niemals sein – aber dazu ein andermal mehr). Jedes Medium hat diese Limitationen. Man muss mit seinen Werkzeugen richtig arbeiten, um die Illusion aufzubauen, die am Ende die Kulisse unseres Abenteuers ist. Als Beispiel dazu eine einfache Filmanalogie: Wir sehen nur genau den Ausschnitt, den die Kamera zeigt. Während wir den Film anschauen, ignorieren wir dieses Wissen – man wird hineingezogen in die Illusion einer „kompletten“ Welt. Trotzdem wissen wir natürlich, dass das nur ein Produkt klugen Schnittes, toller Kulisse, passender Kameraführung und des richtigen Drehbuchs ist.
Viele Spieler und Spielleiter machen den Fehler, dass sie die Logik ihrer eigenen Lebenserfahrung vollständig auf ihre Charaktere und die Spielwelt anwenden. Davon auszugehen, dass ein Charakter sich tatsächlich verhält, wie wir es in seiner Situation täten, ist aber nicht zielführend. Dem Charakter und seinem Spieler stehen gar nicht alle Sinneswahrnehmungen zur Verfügung. Diese benötigt er aber, um mit dem vollen menschlichen Spektrum zu reagieren.
Sinneseindrücke im Pen & Paper sind vorausgewählt
Was meine ich damit? Wir Menschen verarbeiten viele Sinneseindrücke unterbewusst. Im Rollenspiel hingegen werden alle Sinneseindrücke explizit von den gestaltenden Spielern und dem Spielleiter nach verschiedenen Kriterien ausgesucht. Überlegungen zum Drama, zum Genre, zur gewünschten Wirkung einer Aktion etc. werden bewusst und unterbewusst vor und während dem Spiel angestellt. Fast immer werden Informationen aber nach rationalen und logischen Kriterien verarbeitet. Der Spielleiter muss zudem seine Aufmerksamkeit auf verschiedene Aktivitäten gleichzeitig aufteilen. Vielleicht muss er sogar mehrere Spieler gleichzeitig zufriedenstellen, die alle parallel handeln wollen. Die Wahrnehmung der Umgebung ist darum absolut selektiv.
Da ist es naheliegend, dass die Beschreibungen sparsamer werden. Auf Geruch und Lärm wird nur noch eingegangen, wenn es wichtig wird. Meistens hört man nur das, was der Spielleiter explizit benennt, um die Aufmerksamkeit der Spieler zu kriegen. „Du hörst ein verdächtiges Geräusch“, sagt alles. Die Entscheidung ist klar: „Ich gehe dem nach!“ Warum auch nicht? Es ist offensichtlich „verdächtig“. Damit gebe ich aber Gestaltungsspielräume auf. Indem ich alle Interpretation von vornherein ausschließe, wird der Spieler zum reinen Wiederkäuer von Informationen reduziert. (Das Gegenteil davon, nämlich ständige Verwirrung und Unklarheit, ist natürlich genauso wenig gangbar.)
Die richtige Auswahl beeinflusst das Spiel
Deshalb müssen die Spieler und ganz besonders der Spielleiter darauf achten, welche Auswahl von Sinneseindrücken sie treffen. Beschränken sie sich bei der Auswahl auf die falschen Sinneseindrücke, werden falsche Schlüsse gezogen und die falschen Emotionen geweckt. Sind es zu viele, dann werden die Spieler überladen. Sind es zu wenige, dann ist es langweilig und fühlt sich gelenkt an.
Im Extremfall führt das zu einer absurden Situation, die mein Spielleiter einmal in einer seiner alten Gruppen erlebt hat. Alles, was er erwähnte, wurde als wichtig erachtet! Er beschrieb einmal eine mittelalterlich angehauchte Fantasystadt und erwähnte den Müll im Straßengraben. Der Magier konnte nicht an sich halten und eilte sofort los, um im Müll nach Hinweisen auf einen möglichen Plot zu suchen.
Das Setting über Sinneseindrücke etablieren
Die Vermittlung von Sinneswahrnehmungen ist ein Balanceakt aus verfügbarer Zeit (nicht alles muss ständig beschrieben werden), dem Eintauchen in die Spielwelt und dem Vertrautmachen der Spieler mit dem Setting.
Meiner Erfahrung nach bietet es sich an, dass ein neues Setting zu Anfang nach und nach vollumfänglich etabliert wird. Das gilt nur, wenn es für die Geschichte eine Rolle spielen wird (eine Stadt, ein Schiff, die Burg, etc.). Danach kann man in mehreren Wiederholungen Teile davon verfestigen. Nicht lange, und die Spieler werden einen sehr guten Überblick darüber haben, wie es sich dort anfühlt. Ebenso kann man auch mit Charakteren verfahren.
Nutze die vermittelten Erfahrungen
Das hat auch noch einen weiteren Vorteil: Anstatt, dass der Spielleiter sagen muss: „Du hörst ein verdächtiges Geräusch“, kann er die gemachten Erfahrungen tatsächlich mit einem Kontrast versehen. Statt den Schluss selbst zu ziehen und ihn an die Spieler zu verfüttern („Das Geräusch ist verdächtig“), kann er sich darauf beschränken, das Geräusch zu beschreiben. Das benötigt etwas Vorbereitung, gibt den Spielern aber nicht das Gefühl, dass sie nur dem Spielleiter hinterherdackeln. Zeitgleich erhalten sie aus dem Kontrast indirekt Informationen: Warum klopft die Haushälterin nicht, wie zu dieser Zeit üblich, die Teppiche aus? Warum höre ich das Holzbein von Jack dem Piraten nicht? Wo sind sie nur hin? Wer schaut nach? Ich habe doch mehrmals einen Schmied gehört, wenn wir hier vorbeikamen, ich hol ihn zu Hilfe – der hat sicherlich Waffen!
Dieser Ansatz bedeutet zwangsläufig, dass man etwas stärker in die Tiefe gehen muss. Man kann nicht so sehr von Ort zu Ort hüpfen. Das ist aber in den meisten Fällen eher ein Vorteil. Diese Beschränkung erschafft eine Umgebung, die man versteht. Man lernt die NSC zu schätzen. Beides sorgt dafür, dass man die Örtlichkeiten viel besser nutzen kann, wenn man auf den Höhepunkt der Spannungskurve zurast. Spieler und Charakter haben dann eine emotionale Bindung zu diesen Orten aufgebaut. Das heißt, dass sie passendere und interessantere Entscheidungen treffen, wenn es so weit ist, das Finale einzuläuten.
Mit dem Arbeiten, was man hat
Ab ungefähr der zweiten Hälfte einer Geschichte hat man erfahrungsgemäß kaum noch Zeit, neue Fakten und Informationen zu vermitteln. Alles, was am Anfang nicht etabliert wurde, kann kaum noch eine Rolle spielen. Dummerweise ist nur das, was man auch verinnerlicht hat, wirklich abrufbar. Dafür sind Interesse, Aufmerksamkeit und eine emotionale Bindung zum Geschehen wichtig. Simples Wissen des Spielers reicht nicht aus.
Diese tiefergehenden Beschreibungen kann man zu Beginn der Kampagne auch nutzen, um Archetypen zu etablieren. Wenn alle Spieler eine Vorstellung davon haben, wie „die Stadt“ aussieht, riecht, sich anhört und generell anfühlt, dann kann man über Vergleiche und Abweichungen die nächste Stadt mit viel weniger Aufwand sehr lebendig erscheinen lassen. Man baut damit quasi eine „Datenbank“ von Standards auf. Diese kann man über die ganze Kampagne und vielleicht sogar noch über weitere Kampagnen abrufen. Diese Archetypen stehen immer zur Verfügung und füllen selbstständig Lücken. Sie erzeugen schließlich eine gemeinsame Grundlage für alle beteiligten Spieler.
Auch die Spieler nehmen ihre Welt nur über ihre Sinne wahr
Charakter-Informationen sind eine Sache. Aber auch die Spieler-Ebene ist wichtig. Es fängt mit einfachen Dingen an. Die Spieler am Spieltisch müssen alles hören können. Sie sollten nicht abgelenkt werden und sie sollten sich konzentrieren können. Nur dann können sie gute und spannende Entscheidungen treffen. Nur wenn alle gespannt mitfiebern, können sie die Geschichte antreiben. Dazu kommt ein zusätzliches Problem: Sinneseindrücke, welche die Spieler nie selbst erlebt haben, sind für sie natürlich schwerer zu nutzen. Alle Spieler am Spieltisch müssen darum geistig in der Szene präsent sein, wenn etwas Wichtiges passiert.
Spieler müssen darum auf das, was kommt, vorbereitet werden. Damit meine ich nicht, dass man laut erklärt, was gleich geschehen wird, sondern dass sie sich im richtigen Mindset befinden, um einer Situation zu begegnen. Gerade wenn sich Routine eingestellt hat, muss man die Spieler erst einmal schütteln, bevor man die Situation drastisch ändert.
Überrasche die Spieler nur, wenn sie bereit dazu sind…
Nachdem Spieler seit 2 Stunden Gespräche mit NSC geführt haben, denken sie über Hinweise und das Gesagte nach. Ein Angriff aus dem Hinterhalt überrascht dann nicht nur die Charaktere, sondern auch die Spieler. Ist so etwas Teil eures Spiels, dann ist das Teil der taktischen Herausforderung! Wenn ihr aber stark einer Dramaturgie folgt, dann war Verwirrung vielleicht gar nicht das Ziel. Das führt potenziell nur dazu, dass die Spieler verwirrt sind und nichts Kluges zu sagen haben. Ein kurz angebundenes „Ich schieße“ ist ja nicht, was der Spielleiter sich als Reaktion auf seinen tollen Angreifer gewünscht hat.
Die Spieler müssen die Spannung fühlen können
Dabei spielen auch Faktoren eine Rolle, die selten beachtet werden. Beispielsweise, dass der Kreislauf der Spieler vermutlich gerade gar nicht auf „Action“ vorbereitet ist. Sie kommen dann aus dem Mustopf und werden kaum zügig reagieren. Darum ist es wichtig, dass ihr gegebenenfalls auch für einzelne Szenen eine Spannungskurve aufbaut. Ihr könnt z.B. die Spieler durch verschiedene Hinweise darauf vorbereiten, dass ihre Aufmerksamkeit gleich gefragt sein wird. („Ihr hört lautes Hufgeklapper auf der Parallelstraße. Mehrere Pferde scheinen die Straße entlangzudonnern.“)
Filme erreichen das unter anderem über die Musik. Jeder gute Actionfilm kontrolliert eure Atmung und euren Puls durch die richtige Geschwindigkeit und Lautstärke der Musik. Es lohnt sich, darauf einmal beim nächsten Kinobesuch zu achten.
In die Szene eintauchen bedeutet, sich darauf einlassen
Deswegen vermute ich, dass jeder schon einmal einen Mitspieler erlebt hat, der sich benahm wie der nächste Terminator. Das lag vermutlich nicht daran, dass der Spieler ein „schlechter Rollenspieler“ ist, wie gerne einmal gescholten wird. Vielmehr liegt es möglicherweise einfach daran, dass er das Blut nicht roch. Er hatte die Gestik seiner Opfer nicht vor Augen, und sein Adrenalin pumpte nicht. Kein Lärm lenkte ihn ab, und er verspürte keinen echten Zeitdruck. Er hatte keinen Bezug zu den Opfern und keine Freunde, um die er sich sorgte. Wahrscheinlich kannte er den Platz seines Charakters in der Rollenspielwelt nicht. Auch das Werte- und Moralsystem der fiktiven Gesellschaft war ihm möglicherweise fremd, und er wollte erst recht nicht seine realen Überzeugungen anwenden.
Die Spieler müssen darum in die Lage versetzt werden, Entscheidungen zu treffen! Dadurch verhindert ihr, dass es zu Verwirrung kommt. Entscheidungen sorgen dafür, dass man sich involviert fühlt, da es Einfluss mit sich bringt. Entscheidungen setzen aber unbedingt ausreichend Informationen voraus. Die Spieler müssen auch das Setting verstanden haben. Darum solltet ihr das Szenario im Zweifel lieber etwas kleiner halten und es zu 100 % ausnutzen, statt von einem schlecht etablierten Ort zum anderen zu hüpfen.
Im nächsten Artikel schreibe ich über das Priming der Spieler reden – also das Vorbereiten und Andeuten, um die Erwartungshaltung zu steuern, die so zentral ist beim Interpretieren der Geschichte.
Zusammenfassung
Jedes Medium, wie beispielsweise der Film oder das Rollenspiel, bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich. Der Spieler und der Charakter bilden im Rollenspiel eine untrennbare Einheit. Nur wenn der Spieler das Setting versteht und die Sinneseindrücke seines Charakters interpretieren kann, ist es möglich, diese für das Geschichtenerzählen zu nutzen. Darum sollten auch Sinneseindrücke in der ersten Hälfte einer Story etabliert werden, damit man sie später als echten Inhalt benutzen kann. Sie geben den Spielern ein Gefühl von Zugehörigkeit, dadurch, dass sie verschiedene Örtlichkeiten auch darüber kennengelernt haben, wie diese sich anhören, riechen oder aussehen. Auch dadurch werden die Spieler befähigt, echte Entscheidungen zu treffen. Es gibt allen Beteiligten mehr Agency innerhalb der Geschichte und des Spiels.