„Kali maa!“, ruft der Mann, der einen Schädel als Hut trägt. „Kali maa!“
Dann reißt er dem Kerl im Käfig das Herz heraus, und unter wild schlagenden Trommeln wird der arme Bastard, wundersam noch lebendig, in die Tiefe zur Lavagrube abgesenkt. Dazu jubeln Dutzende kostümierte Schergen, und Indiana Jones schaut mit Entsetzen zu.
Für solche grandiosen Szenen braucht es einen Kult. Dabei ist egal, ob das jetzt ein religiöser Kult ist, ein politischer oder irgendein seltsamer Geheimbund koksnasiger Yuppies von der Wall Street, die sich zusammengetan haben, um nach oben zu streben oder bayrische Offiziere, die sich mit dem Staat anlegen. Kulte und strukturell vergleichbare Geheimorganisationen sind ein ganz besonderer Typus von Opposition im Rollenspiel.
Sicher, nicht bei allen Rollenspielen wird man auf Kulte treffen. Dafür gibt es auf der anderen Seite einige, wo Kultisten scheinbar die Norm sind und hinter jeder zweiten Ecke hocken. Viele Rollenspiele, die in Lovecrafts Mythos-Universum spielen, sind voll davon, und auch beim deutschen Platzhirsch DSA5 steckt gefühlt hinter jeder zweiten Geschichte irgendwo ein Kultist des Namenlosen, des neuen 08/15-Gegenspielers für alle Lebenslagen.
Daher will ich einen Blick auf Kulte werfen und dieser Trope ein wenig auf den Zahn fühlen. Ich fange in diesem Artikel mit einem Überblick über die Grundlagen von „Kulte 101“ an.
Was ist ein Kult?
Ich beginne mit der einfachsten Frage: Was ist überhaupt ein Kult? Wenn ich Kultisten haben will, dann komme ich ohne einen Kult schließlich nicht sehr weit.
Ganz einfach ausgedrückt ist ein Kult die kleinste Zelle einer jeden Religion. Ein Zusammenschluss aus Personen, die gemeinsam kultische Handlungen durchführen, miteinander und füreinander, manchmal noch etwas snobistisch von „Religionen“ abgehoben. Dabei muss man unbedingt beachten, dass nur religiöse Menschen Religion aus der Prämisse heraus betrachten, dass sie real wäre. Wir wissen ja heute alle, dass es keine Götter und Geister, keine Engel und keine Teufel gibt. Und selbst die, die das nicht zu wissen glauben, glauben es eben auch nur und stimmen dem Atheisten dennoch in Bezug auf 99% aller Götter zu. Denen nämlich, an die sie selbst nicht glauben.
Da Götter und Geister, Dämonen und Engel aber nun einmal nicht real sind, haben zumindest reale Kulte auch nur indirekt mit diesen Dingen zu tun.
Ein Kult ist zuallererst eine Gemeinschaft von Personen
Im Kern dreht ein Kult sich daher um die Gemeinschaft derer, die ihm angehören. Kultische Handlungen fördern das Gemeinschaftsgefühl und strukturieren das Leben der Gläubigen. Der Kult dient dabei gleichzeitig den Interessen der Anhänger wie auch dem Streben seiner Führer. Diese streben oft nach Macht, Ansehen, Wohlstand oder Sex. Also dem, wonach Menschen im Allgemeinen auch sonst so streben.
Die Jünger bedienen dieses Bedürfnis auf die eine oder andere Art und erhalten im Gegenzug eine Strukturierung ihres Lebens, weltliche und religiöse Führung und Einbindung in die Kultgemeinschaft. Religiös kommt dazu noch die Bestätigung göttlicher Gunst oder die Zusicherung, von übernatürlichem Zorn verschont zu bleiben. Wie viel das wert ist, hängt vom Setting ab und kann bei real wirksamen Göttern durchaus einen deutlichen Eigenwert haben. Genug aber erst mal dazu, was Kulte real sind.
Grundsätzlichkeiten
Im Rollenspiel, besonders im deutschen Sprachraum, werden die Organisationen der guten Götter eher als Kirchen bezeichnet. Der Kultbegriff ist für die meisten Spielenenden mit der „anderen Seite“ verbunden – dem personifizierten Bösen.
Das liegt auch daran, dass die im Westen so dominanten christlichen Kirchen gern andere Glaubensgemeinschaften als Kult oder als Sekte bezeichnen. Diese Begriffe haben heute daher allgemein einen negativen Beiklang. Ich bin aber nicht hier, um allgemeine Gesellschafts- und Sprachkritik zu betreiben. Die Musik ist, wie sie ist. Tanzen wir also dazu. Es ist ohnehin nicht schlecht, derartige Gedankenbilder dort abzugreifen, wo man die Mitspielenden direkt damit abholen kann. Was braucht deshalb ein guter Kult im Rollenspiel, damit er etwas taugt?
Kulthandlungen
Jeder spannende Kult braucht irgendwelche interessanten Kulthandlungen. Der Irre mit dem Schädel auf dem Kopf reißt seinem Opfer im Tempel des Todes das Herz mit bloßen Händen aus der Brust. Die Priester von Huitzilopochtli schlachteten reihenweise Menschen auf der großen Pyramide, um ihrem Sonnengott die Herzen darbieten zu können. Abseits von Blut und Herzen: Die Anhängerinnen des mediterranen Pankultes trieben es mit Ziegenböcken, und bei den Bacchanalien ging es ebenfalls heiß her in wilden (potenziell exklusiv lesbischen) Orgien.
Ein guter Kult braucht einprägsame Kulthandlungen. Dazu gehören besondere Orte, an denen die Handlungen durchgeführt werden, bestimmte Termine, zu denen sie stattfinden, und auch rituelle Kostüme oder Kleidungsbräuche. Ein Teufelskult, bei dem sich die Anhänger mit venezianischen Masken, Tuxedos tragend, in französischen Landschlössern treffen, hat ein ganz anderes Flair, als wenn die gleichen Personen sich in Jeans und T-Shirt in einem Frankfurter Messehotel träfen.
Ziele
Ein guter Kult braucht interessante und hoffentlich originelle Ziele. Oder zumindest Ziele, die zu dramatischen Spielsituationen führen. Davon ausgehend, dass der Kult als Gegenspielerfraktion im Rollenspiel auftritt, gelten die gleichen Kriterien wie für einen guten Bösewicht, und dazu gehört eben auch irgendein Ziel. Menschen treffen sich ja nicht einfach so jeden Mittwoch zu Mitternacht im Mippelsheimer Forst, nur um Merle, der alten Müllerin, zuzugucken, wie sie aus marinierten Mäusen die Gegenwart liest.
Das eigentliche Ziel der meisten Kulte ist, was auch immer die Führer des Kultes erreichen wollen, aber das muss nicht immer das sein, was die Anhänger des Kultes zu verfolgen glauben! So sind auch mehrschichtige Ziele denkbar. Ein Sexkult kann beispielsweise das Ziel haben, möglichst tolle Orgien zu feiern, während der Incubus-Dämon, der den Kult anführt, an der dabei freigesetzten Energie interessiert ist.
Auch eine völlige Täuschung der Anhänger ist bei einem bösen Kult denkbar. Wenn beispielsweise die Anhänger des Kultes glauben, dass es ihr Ziel ist, ihren verbannten Gott auferstehen zu lassen, auf dass er ihnen Dank schuldet, wohingegen es das eigentliche Ziel der Anführer ist, den gesamten Kult, sobald er erfolgreich war, dann als Opfer für den Erzdämon darzubringen, der sich hinter der Maske dieses Gottes verbirgt.
Kostüme
Rollenspiel mag kein visuelles Medium sein, aber auch in der gemeinsamen Imagination machen Kleider Leute, und ein guter Kult braucht eben auch ein passendes Kostüm. Ein komplexer Kult kann davon auch gern mehrere verschiedene haben oder spezielle Gewandungen für die unterschiedlichsten Handlungen, Anlässe, Jahreszeiten und Feste.
Weniger ist dabei oft mehr. Beschreibender Wiedererkennungseffekt spielt auch im Rollenspiel eine Rolle. Es ist daher ratsam, sich ein paar Gedanken zur kultischen Gewandung zu machen. Wenn dir wirklich gar nichts einfällt, fein. Steck einfach alle in purpurne, rote oder schwarze Kutten und fertig. Wenn alles sonst passt, wird sich vielleicht niemand daran stören.
Ansonsten aber mach dir ruhig ein paar Gedanken mehr dazu. Welche Farbe(n) trägt der Kult? Und warum? Rot, weil es das Blut ihrer Göttin ist, das sie vergoss, als sie vom Rücken des Himmelsphönix stürzte? Weiß, weil es die Farbe der Unschuld ist? Und was ist mit Symbolen, Zierrat, Schmuck? Ein Franziskanermönch trägt einen braunen Sack mit einer Kordel als Gürtel, weil der Franziskanerorden ein Bettelorden ist. Wenn man sich hingegen den Papst betrachtet oder einen katholischen Kardinal, dann sind die weitaus protziger gewandet. Diese Gedanken helfen übrigens auch, um Orte und Kunstwerke auszugestalten, denn die wichtigen Motive ziehen sich ja durch das gesamte Denken des Kultes.
Zum Kostüm im weiteren Sinn gehören natürlich auch Ritualgegenstände und Reliquien. Der Hohepriester trägt ja nicht einfach Onkel Dieters alten Cowboyhut, wenn er für Kali Maa Herzen herausreißt. Er trägt seinen prächtigen Totenschädel-Hörnerhelm – seine Paraphernalien!
Anführer
Jeder Kult braucht einen oder mehrere Anführer, und für eine gute Geschichte sollten diese Anführer den Kult auf irgendeine Art repräsentieren, seine Eigenschaften und Ziele verkörpern. Dabei kann das ein einziger Anführer bei einem kleinen Kult sein oder ein halbes Dutzend Führungskräfte, wenn man es mit einem größeren Kult zu tun hat.
Empfehlenswert ist hier, nicht einfach nur eine simple Hierarchie zu bauen. Klare Aufgabenverteilungen machen diese Führungspersonen viel interessanter. Sie können dann auch unterschiedliche Elemente repräsentieren. Ein Hohepriester könnte die religiöse Hingabe verkörpern, wohingegen sein Erzhandlanger die Ruchlosigkeit des Körpers verkörpert. Auch umgekehrt ist so was spannend, weil es Twists ermöglicht. Etwa wenn der höchste Kultführer ein kalkulierender Machtmensch ist, sein Erzhandlanger aber fanatisch den ganzen Dreck glaubt, den sein Boss den Anhängern verfüttert. Er ist dann ein glühender Fanatiker und vielleicht auch extrem gefährlich, aber wehe, er merkt eines Tages, dass er getäuscht wurde.
Achte auch darauf, dass du, wenn du deinen Kult über mehrere Geschichten hinweg verwenden möchtest, rechtzeitig eine gewisse Redundanz einplanen solltest. Wenn der Oberschurke besiegt wird, dann solltest du einen Handlangerschurken haben, der nachrücken kann. Oder umgekehrt, einen Sündenbockhandlanger, der anstelle seines obersten Bosses ins Gras beißen kann, damit der eigentliche Anführer bis zum Finale entkommen kann.
Zusammenfassung
„Kali maa!“
Reale Kulte und Kulte im Pen & Paper Rollenspiel haben strukturelle einiges gemein. Sie sind eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, sie haben (geheime) Riten und sie heben sich vom Rest der Gesellschaft ab.
Der Kult im Fantasy-Rollenspiel, der echte, wirkende Götter anbetet, hebt sich davon insofern ab, als aus seinen Handlungen auch Konsequenzen erwachsen, die in der Realität nicht geschehen könnten. Kein realer Kult wird beispielsweise jemals einen Dämon beschwören.
Ein interessanter Kult braucht:
Interessante, ungewöhnliche und vielleicht sogar exotische Kulthandlungen. Diese sollten einprägsam sein.
Ziele, welche er aktiv verfolgt. Diese sollten komplexer sein, je länger der Kult in einer Kampagne benutzt werden soll. Hier können sich auch unterschiedliche Interessen überschneiden. Die Anführer des Kultes müssen ebenso wenig dieselben Ziele haben wie die einfachen Anhänger oder die Nummer zwei.
Gut aussehende und erinnerungswürdige Kostüme. Der Look & Feel eines Kultes ist sehr wichtig. Symbolik und Mythos des Kultes weiter auszubauen, schadet darum bei Kulten, die nicht sofort nach einer Spielsitzung verbraucht sind, überhaupt nicht.
Jeder Kult braucht Gesichter, und meistens sind das die Anführer, also diejenigen, deren Zielen das alles dient oder die den Rest manipulieren.
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