In diesem Beitrag geht es um Beispiele historischer Frauen, die gute Vorbilder und Inspirationen für atypische Charaktere darstellen. Weibliche Charaktere, die mit dem historischen Klischee brechen, ohne dabei den Rahmen völlig zu verlassen oder das Setting zu zerstören.
In meinem Artikel „Atypische Frauenrollen für historische Settings“ habe ich darüber geschrieben, wie das so ist, wenn man (bzw. wenn Frau) in einem historischen Setting etwas anderes spielen möchte als Heimchen, Liebchen, Anhang, Feigenblatt oder Maid in Nöten. Und zwar ohne den billigen Kunstgriff, Sexismus, Rassismus und Klassenunterschiede des Settings einfach hinfort zu definieren. Ich wollte diesen Artikel schon sehr lange einmal schreiben, und als die Teilzeithelden dann auch noch mit ihrer 50/50-Aktion zu genau solchen Texten aufriefen, habe ich mich endlich aufgerafft, das auch zu tun.
Viel Feedback, aber auch ein Wunsch nach mehr
Das Feedback dazu war überwältigend! Wir haben eine Unmenge positiver Rückmeldungen und Leserbriefe zu dem Thema bekommen. Man sagt ja manchmal, dass die Unzufriedenen lauter sind als die Zufriedenen. In diesem Fall lag die Quote positiver Rückmeldungen bei über 95 Prozent! Und das waren nur die Lesermeinungen über das Kontaktformular und die Umfrage. Auch auf Facebook, Twitter und anderen Kanälen gab es viel Zuspruch und Lob. Natürlich gab es auch jemanden, der meinte, dass sich Frauen gefälligst nicht so haben sollen und doch bitte das spielen, was das Setting ihnen an Krümeln anbietet, gleich, was das dann auch sein mag.
Es gab neben Lob aber auch Wünsche und Anregungen, und derer möchte ich mich mit diesem Artikel annehmen! Der häufigste Wunsch war der nach besonders interessanten Beispielen außergewöhnlicher Frauen. Da gibt es genug, dass man ein ganzes Bücherregal voll über sie schreiben könnte, und es gibt einige, zu denen man sehr leicht Informationen oder Mythen findet. Mulan und Jeanne d‘Arc sind fast jedem bekannt und zudem reichlich extreme Beispiele. Es ist spannend, über sie zu lesen, aber für Rollenspielerinnen (oder Cross-Gender-Rollenspieler) bieten sie nur wenig Inspiration für eigene Charaktere. Sie sind einfach zu schwer als Mustervorlage zu kopieren, ganz oder in Teilen.
Ich will daher ganz spezifisch auf Frauen eingehen, die für mich persönlich interessante Beispiele atypischer Frauenrollen darstellen. Frauen der Vergangenheit, die sich durch besonderen Mut, durch beeindruckendes Talent oder besondere Originalität hervorgetan haben. Vor allem aber eben Frauen, die beispielhafte Lösungsansätze für den Rollenspielkontext bieten.
Im ersten Teil dieser Serie möchte ich euch drei Frauen vorstellen: Sacagawea, Mochizuki Chiyome und Hedy Lamarr. Der Abschnitt über Hedy Lamarr ist bereits auf PnPnews veröffentlicht worden.
Sacagawea
Jeder amerikanische Schüler kennt die Geschichte von Sacagawea und der Lewis-und-Clark-Expedition. Zumindest die aktuellen Generationen, denn historisch war Sacagawea lange Zeit marginalisiert und vergessen. Die meisten Europäer wissen hingegen oft nicht einmal, wer Lewis und Clark waren. Das ist auch völlig in Ordnung, denn so bedeutend die Lewis-und-Clark-Expedition auch für das Tempo der Besiedlung West-Nordamerikas gewesen ist und so groß ihr Beitrag zum nationalen Mythos der USA auch war; in der europäischen Geschichte gab es um 1800 herum wichtigere Ereignisse. Daher kennen die meisten Lewis und Clark vermutlich eher aus ihrem Epic Rap Battle gegen Bill und Ted (einem anderen ikonischen Duo, das kaum jemand hierzulande kennt), aus dem Ben-Stiller-Film Nachts im Museum oder vom Namen des Rettungsschiffs in Event Horizon.
Die Lewis & Clark Expedition
Die Lewis-und-Clark-Expedition war eine von US Präsident Thomas Jefferson beauftragte Überlanderkundung des Landes zwischen dem damaligen US-Territorium und der Westküste. Bis dahin von Weißen unerforschtes Gebiet. Der Auftrag ging an Captain Meriwether Lewis und Lieutenant William Clark. Daher der heutige Name Lewis-und-Clark-Expedition.
Die Sacagawea-Expedition?
Sacagawea war eine Shoshone-Indianerin, die im Alter von etwa zehn Jahren vom Stamm der Hidatsa als Sklavin verschleppt und schließlich an den frankokanadischen Pelzjäger Toussaint Charbonneau verkauft wurde. Diesen heuerten Lewis und Clark dann auch als wegkundigen Begleiter an. Sacagawea war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt und mit ihrem ersten Kind schwanger. Sie begleitete die Expedition, auch weil sie die Sprachen der Hidatsa sprach, ebenso wie Shoshonisch.
Tatsächlich erwies sie sich als wesentlich nützlicher für die Expedition als ihr Mann und Sklavenhalter Charbonneau. Sie kannte viele der Pflanzen und Tiere entlang der Route und konnte zwischen der Expedition und den Einheimischen vermitteln, denen man auf der Reise begegnete. Überhaupt verstand sie mehr vom Überleben in der westamerikanischen Wildnis als die Teilnehmer der Expedition und war so ein ums andere Mal essenziell für das Überleben der Gruppe. Wichtig war auch, dass sie als Frau mit einem Kind auf dem Rücken (der üblichen Transportmethode in diesem Fall) allen Indianern signalisierte, dass von der Lewis-und-Clarke-Expedition keine Gefahr ausging, denn Indianer nahmen keine Frauen und keine Kinder auf Kriegszüge mit. Außer als Beutesklaven.
Wie groß ihre Rolle tatsächlich war, ist zu einem großen Teil leider Spekulation. Die Geschichtsschreibung marginalisierte und tilgte sie zunächst nahezu völlig aus der legendären Expedition, wohingegen besonders neuzeitliche Geschichtsforscher mit politischen Zielen dazu neigen, ihre Rolle aus emanzipatorischer Motivation zu überhöhen. Fakt ist, dass wir nicht genau sagen können, wie wichtig sie tatsächlich gewesen ist. Aber das spielt in diesem Kontext auch keine Rolle.
Sacagawea als Charakterinspiration
Als Inspiration für einen Rollenspielcharakter kann man Sacagawea genauso bedenkenlos überzeichnen, wie es mit den meisten anderen Rollen auch getan wird. So kann sie, oder jemand wie sie, die gleiche Rolle einnehmen, die in den meisten Fantasyrollenspielen dem Ranger oder dem Elfen zugesprochen wird. Sie ist eine gute Vorlage für eine Frau, ohne die die Männer um sie herum völlig aufgeschmissen gewesen und vermutlich gescheitert oder gestorben wären. Den Aspekt der Kindersklaverei und der sexuellen Ausbeutung kann man im Rahmen einer fiktionalisierten Variante oder bei der Verwendung als Inspiration auch streichen oder aber heroisieren. Aus heutiger Sicht taugt der fast vierzigjährige Pelzhändler mit seiner minderjährigen Sklavenfrau jedenfalls nicht als Identifikationsfigur.
Mochizuki Chiyome
Die japanische Dichterin und Hofdame Mochizuki Chiyome war auf den ersten Blick das genaue Gegenteil einer atypischen Frauenrolle. Sie war angepasst, konform, folgsam, gut ausgebildet, devot und gut erzogen. Genau so, wie sich die patriarchisch dominierte Gesellschaft Japans eine anständige Frau vorstellte.
Chiyome war die Witwe des Takeda-Samurai Mochizuki Moritoki, selbst Angehörige der Bushi-Kaste und damit eine Onna-Bugeisha. Als solche war sie im Kampf mit der Naginata ausgebildet, aber Chiyome war weit mehr als nur die Witwe eines Samurai! Sie war eine Nachfahrin des berühmten Ninjas Mochizuki Izumo-no-Kami und wurde nach dem Tod ihres Mannes selbst eine Ninja im Dienste der Takedas.
Ninja!
Mochizuki Chiyome baute im Dienst ihres Herrn, Takeda Shingen, des Daimyos des Takeda-Clans, einen ausschließlich aus Frauen bestehenden Ninja-Clan auf. Sozusagen den Geheimdienst des Fürsten. Sie rekrutierte Waisenkinder, Prostituierte, Straßenkinder und arme Geishas als ihre Kunoichi, weibliche Ninjas. Die meisten wurden als Miko ausgebildet, Schreinmaiden des Shinto-Kultes, die unbehelligt reisen konnten und nirgends Aufmerksamkeit erregten.
Mochizuki Chiyome als Charakterinspiration
Rollenspielerisch ist Mochizuki Chiyome in vielerlei Hinsicht eine spannende Figur. Sie scheint nach außen hin harmlos, angepasst und klischeehaft zu sein. Eine Hofdame, die Gedichte schreibt. Tatsächlich aber koordiniert sie eines der besten Agentennetze, die es zu ihren Lebzeiten in Japan gab, und unternimmt auch persönlich gefährliche Geheimoperationen. Sie ist damit eine interessante Schablone für eigene Charaktere, aber sie ist so viel mehr als nur das. Ihre gesamte Organisation aus Kunoichi bietet eine Vielzahl atypischer Charakteroptionen unterschiedlichster Hintergründe aus dem gesamten Spektrum marginalisierter Frauen ihrer Zeit. Zunächst einmal natürlich nur innerhalb Japans. Figuren wie Mochizuki Chiyome sind aber nicht allein dem 16. Jahrhundert vorbehalten. Auch zu späteren Zeiten gab es vergleichbare Organisationen wie Chiyomes Kunoichi. Bis hinein in die Zeit zwischen dem ersten Kontakt Japans mit portugiesischen Händlern und Missionaren, bis zur erzwungenen Öffnung Japans durch die amerikanische Kanonenbootpolitik.
Hedy Lamarr
Wenn Handys, Bluetooth und WLAN ein Teil deines Lebens sind, dann kannst du dich dafür bei Hedy Lamarr bedanken. Ihre Forschung hat nämlich die Grundlage dafür geliefert und noch für vieles mehr. Hedy Lamarr ist dabei aber alles andere als das, woran die meisten bei einem typischen Erfinder denken. Prima! Sonst wäre sie nicht in dieser Sammlung spannender Beispiele und Inspirationen für Charaktere gelandet.
Schauspielerin, trotzdem clever!
Hedy Lamarr, 1914 in Wien geboren als Hedwig Eva Maria Kiesler, begann ihre Karriere als Schauspielerin in Österreich und den USA. In den 30er-Jahren brachte sie es zu Starruhm in Hollywood. Zur gleichen Zeit begann in Deutschland der Aufstieg der Nationalsozialisten. Lamarr war nicht nur Jüdin und Antifaschistin, sondern auch weitaus klüger, als es im Klischee den meisten Hollywoodschauspielerinnen zugetraut wird.
Ihre Laufbahn als Hollywoodschauspielerin endete, als sie den reichen Rüstungsindustriellen Fritz Mandl heiratete, der ihr aufgrund seiner ausgeprägten Eifersucht verbot, weiter in Filmen aufzutreten. Lamarr widmete sich daher anderen Projekten, organisierte politische Veranstaltungen, Lesungen und Kunstprojekte. Eine dieser Unternehmungen erforderte die Synchronisierung von 16 selbstspielenden Pianos, was damals eine große Herausforderung darstellte. Zusammen mit dem Komponisten George Antheil fand sie die Lösung des Problems mithilfe von gleich getaktet laufenden Klavierrollen. Dabei handelt es sich um Loch-Papier-Streifen, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren wie frühe Lochkarten in Computersystemen.
Vom Piano zur Verschlüsselung
In Hedy Lamarrs Kopf reifte daraufhin eine bahnbrechende Idee zur Kodierung und Absicherung von Funkverbindungen der Fernsteuerung von Torpedos. Stattete man Sender und Torpedo jeweils mit einem Lochkartenleser und der identischen Lochkarte aus, so konnten beide Geräte trotz räumlicher Trennung zum jeweils exakt gleichen Zeitpunkt die Funkfrequenz wechseln. Außerdem könnte man regelmäßig neue Lochkarten verwenden, sodass nie ein berechenbares Muster erkennbar wäre. Dieses Verfahren des algorithmischen Frequenz- oder Kanalwechsels ist auch heute noch zentraler Bestandteil vieler Funksysteme.
Im Zweiten Weltkrieg kam Hedy Lamarrs Idee nicht mehr zum Einsatz, aber im Kalten Krieg zwischen West und Ost war die weiterentwickelte Technologie für die US- und NATO-Streitkräfte von allergrößter Bedeutung.
Eine ungewöhnliche Laufbahn
Beeindruckend ist dabei für mich, dass Hedy Lamarr sich nicht nur als eine brillante Erfinderin bewiesen hat, sondern dabei auch einen äußerst drastischen Kontrast zu ihrem Image als hübsches Gesicht mit langen Beinen lieferte. Als Schauspielerin wurde sie nämlich vorwiegend als lebende Dekoration in Nebenrollen verwendet. Daher war es keineswegs leicht, die alten Männer in der Marineführung dazu zu bewegen, ihr überhaupt zuzuhören. Was für eine Zeitverschwendung! Die Herren in Uniform hatten schließlich Wichtigeres zu tun, als mit dem hübschen Dummchen über dessen alberne Klavier-Idee zu sprechen. Lamarr aber blieb hartnäckig und setzte sich irgendwann endlich durch.
Natürlich half es, dass Hedy Lamarr mit einem reichen und einflussreichen Mann verheiratet war, aber es waren nicht zuletzt ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit, ihre Hartnäckigkeit und ihr Charisma, die ihrer neuartigen Technologie zum Durchbruch verhalfen. 2014 wurde sie verdientermaßen posthum in die National Inventors Hall of Fame aufgenommen.
Hedy Lamarr als Charakterinspiration
Für weibliche Rollenspielcharaktere finde ich Hedy Lamarr vor allem deshalb als Vorlage geeignet, weil sie ein leuchtendes Beispiel dafür ist, dass man konventionelle Rollenbilder mit unkonventionellen Elementen verbinden und unterlegen kann. So entsteht etwas Atypisches und Einzigartiges, das im Spiel Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten bietet, die ohne den atypischen Anteil nicht bestünden.
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