Je eindeutiger das Ziel und je stärker die Motivation der Beteiligten, desto dramatischer und reibungsloser laufen Kämpfe im Rollenspiel. In unserem letzten Artikel haben wir deshalb darüber gesprochen, dass Kämpfe ein Ziel haben sollten und die kämpfenden Charaktere dazu auch noch eine passende Motivation.
Wir betrachten heute ein spezifisches Kampfziel, das nicht immer unkontrovers ist für die Charaktere im Pen & Paper Rollenspiel: die Flucht.
Die Flucht
Für reale Menschen ist es in einem Kampf oft Ziel genug, heil davonzukommen. Im Rollenspiel jedoch kann Flucht sich anfühlen wie eine Niederlage. Nur spielen die wenigsten, um Niederlagen zu erleben, sondern suchen im Rollenspiel nebst anderen Dingen auch Erfolgserlebnisse.
Die Flucht als Ziel ist daher eines der unbeliebtesten Kampfziele überhaupt. Sie ist auch eines der kompliziertesten. Im Spiel kann Flucht als Ziel an vielerlei Faktoren scheitern und zu Komplikationen sowie zu Missverständnissen führen.
Was bedeutet Flucht?
Flucht, als Ziel in einem Kampf, ist die möglichst zügige Beendigung des Kampfes. Dramaturgisch ist das allerdings auch für sich allein genommen nicht spannend. Eine Flucht ist nur dann interessant, wenn sie ausreichend motiviert und angemessen kompliziert ist.
Neben dem Ziel, zu fliehen, gehört also auch ein guter Grund dazu, es zu tun. Kampf ist schließlich kondensiertes Drama, und wenn wir dieses Drama opfern, dann möglichst für etwas Gleichwertiges. Die Flucht sollte also genauso spannend und interessant sein, wie es der Kampf wäre, den sie ersetzt. Entweder durch die Umstände der Flucht selbst oder durch etwas, das absehbar auf die Flucht folgt.
Von etwas weg oder zu etwas hin
Typischerweise fliehen Protagonisten daher in einer von zwei Arten: vor etwas oder zu etwas. Die Akteure einer Geschichte fliehen vor einer überlegenen Bedrohung, weil sie zu dem entsprechenden Zeitpunkt keine Chance auf einen Sieg haben. Dennoch müssen sie sich die erfolgreiche Flucht erkämpfen.
Oder sie fliehen zu etwas anderem hin, weil der Kampf sie aufhalten würde, etwas zu erreichen, was vorgeht. Wer auf dem Weg ist, um die tickende Zeitbombe zu entschärfen, der kann es sich nicht leisten, sich mit Handlangern herumzuschlagen, und versucht den schnellen Durchbruch oder setzt auf das trickreiche Umgehen seiner Feinde.
Flucht kannst du nicht erzwingen
Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Spielenden nur ein sehr undeutliches Konzept davon haben, was sie eigentlich wollen und wie es zustande kommt. Wer sich dagegen sträubt, die eigene Spielfigur die Flucht antreten zu lassen, kann ja nicht ahnen, dass so die ungemein spannende Verfolgungsjagd nicht stattfinden kann – auch wenn die vielleicht mehr Spaß gemacht hätte, als der unnötige Kampf.
Es ist unbefriedigend, wenn Spieler ihre Charaktere in völlig sinnlosen Kämpfen verheizen, weil ihnen partout nicht in den Sinn kommen mag, dass Flucht sinnvoll oder möglich sein könnte. Genauso unglücklich ist es, wenn ein Spielleiter aus dramaturgischen Gründen eine Flucht erzwingen will, die Spieler diese Option aber nicht annehmen. Spieler, die ihre Spielfiguren in einem für die Entwicklung der Geschichte wichtigen Kampf überraschend das Weite suchen lassen, sind genauso unvorteilhaft.
Fliehen will gelernt sein
Viele Spieler müssen dieses Ziel oft erst erlernen, denn die Mehrheit aller Rollenspielenden entscheidet sich nicht für Geschichten und Systeme mit Kampfinhalten, nur um dann ausgerechnet vor Kämpfen zu fliehen.
Für viele ist Kampf gar ein Automatismus. Darüber schrieb ich erst kürzlich. Sobald Waffen gezückt werden, wird gekämpft. Wenn man über diesen Umstand nicht nachdenkt, kann man ihn auch nicht vermeiden.
Besorg dir ein Sprachrohr
Es hilft, einen oder mehrere NSCs in einer Situation zu haben, die klar aussprechen, was los ist. „Hier gibt es nichts für uns zu gewinnen! Nichts wie weg!“ oder „Seid ihr denn verrückt? Die Bombe tickt! Wir haben keine Zeit für das hier!“ Ein wenig Tross ist wie immer nützlich.
Man kann das auch wieder umdrehen. Es können auch die Gegner sein, die es aussprechen. „Lasst sie nicht entkommen! Der Boss braucht einige Minuten länger als gedacht!“ oder „Ihr seid umstellt und wir sind doppelt so viele wie ihr. Wenn ihr kämpft, werdet ihr sterben! Ist es das wert? Gebt auf!“
Es ausgesprochen im Raum stehen zu haben, hilft oft weniger erfahrenen Mitspielenden, ihre gedankliche Routine zu durchbrechen. Es bringt den Impuls in ihre Gedanken ein, dass es möglich sein könnte, zu fliehen, ohne dass man dazu die Spielebene verlassen muss.
Manchmal mag die Situation natürlich eindeutig sein, etwa wenn die Charaktere von einer Übermacht umstellt werden. Viele Spielende hassen das, weil es ihnen die Entscheidungshoheit über ihre Spielfigur raubt, gerade wenn sie die aufgebotenen Truppen für unangemessen halten. Deshalb versuchen sie auch dann oft zu entkommen, wenn es eigentlich unmöglich, unsinnig, oder abträglich ist. Klare Hinweise zu verbauen, wann es angemessen ist zu fliehen und wann nicht, kann daher hilfreich sein. Falsche Erwartungen zu wecken, ist allgemein problematisch.
Die Flucht vermeiden – aufgeben
Wenn du als Spielleitung möchtest, dass die Spielercharaktere in Gefangenschaft geraten, bereite sie subtil darauf vor. Der Gedanke an sich ist den meisten Spielenden eher fremd. Es auszusprechen, bereitet bereits den Boden und steigert die Chancen immens, dass es reibungsloser läuft. Dazu könnte beispielsweise ein beteiligter NSC klarmachen, dass er nicht bis zum Tod kämpfen wird und dass er lieber aufgibt, als zu sterben. Es ist aber wichtig, dass du alsbald mögliche Auswege andeutest, damit möglichst schnell das Gefühl wieder verfliegt, dass die Spieler hier machtlose Figuren in deinem Spiel sind.
Außerdem ist es natürlich hilfreich, wenn du nicht direkt eine Stunde zuvor eine öffentliche Hinrichtung als Hintergrund-Event eingebaut hast. Spieler werden sich daran erinnern. Einen fairen Richter zu erleben, hilft da schon eher – damit kannst du auch ein wenig steuern, was im Falle einer Gefangennahme passiert, die nicht zwingend vorgesehen ist, aber vorkommen kann.
Die Flucht begünstigen
Wenn du dir als Spielleitung hingegen wünscht, dass die Charaktere eine Flucht versuchen, sorge dafür, dass es mehrere Fluchtwege gibt – oder zumindest Variationen von Fluchtwegen. Unterschätze nie, dass irgendein Spieler einen für dich völlig obskuren, aber für ihn felsenfesten Grund finden könnte, einen von dir vorgesehenen Fluchtweg für völlig unmöglich zu halten.
Indem du mehrere Optionen in der Hinterhand hast, gibst du den Spielern nicht nur mehr Entscheidungsmöglichkeiten und ermächtigst sie so innerhalb der Geschichte, sondern du vermeidest auch Stolpersteine. Je stärker die Spieler das Gefühl haben, dass ihre Entscheidungen und ihre Handlungen etwas bewirken, desto besser.
Leben muss man wollen
Das Allerwichtigste ist jedoch, dass Flucht nur dann ein legitimes Ziel für einen Kampf ist, wenn die Spielenden sich über ihre über den Kampf hinausgehende Motivation im Klaren sind. Kurz: Nur wer leben will, wer noch etwas zu erledigen hat, das wichtiger ist als dieser Kampf, der flieht auch. Im Rollenspiel sind die Spielenden aber von ihren Spielfiguren distanzierter, als es eine reale Person naturgemäß von sich selbst ist. Da Rollenspiel sich zusätzlich um dramaturgische Zuspitzung dreht, sind Rollenspielende wesentlich risikofreudiger, als ihre Charaktere es als reale Personen wären.
Zwinge deine Gruppe daher nicht, sich für eine Flucht entscheiden zu müssen, wenn du nicht bereits weißt, dass sie ihren nächsten Wegpunkt in der Geschichte kennen oder zumindest eine Idee haben, wo sie als Nächstes hinwollen. Und hüte dich, wenn unter den Charakteren der Gruppe deklarierte Fanatiker sind. Nein, nicht unter den Spielern! Wenn aber jemand nun einen Charakter spielt, von dem du als Spielleitung ohne jeden Zweifel sicher sein kannst, dass dieser Charakter niemals, unter keinen wie auch immer gearteten Umständen, bereit wäre, zu fliehen, dann spekuliere nicht darauf, dass er es doch tut. Vielleicht war der Charakter dann die falsche Wahl für dein Abenteuer, oder dein Abenteuer die falsche Wahl für den Charakter.
Zusammenfassung
Niemand kämpft real ohne einen guten Grund, aber im Rollenspiel ist es oft genau anders herum. Niemand flieht ohne einen guten Grund. Also achte darauf, wenn du die Spielleitung bist, dass du dir über die Motivation der Charaktere im Klaren bist. Das wiederum setzt natürlich voraus, dass die Spielenden das Gleiche tun müssen.
Als Spielleitung kannst du die Saat von Gedanken frühzeitig in den Köpfen deiner Mitspielenden säen, indem NSCs aus dem Tross Dinge klar aussprechen, welche die Spieler aus ihren Kampfroutinen rütteln.
Auch sollte es immer mehrere Fluchtwege geben. Das können auch subtile Varianten ein und desselben Fluchtweges sein. Das hilft nicht nur dabei, dass die Spieler die Flucht eher annehmen, sondern stärkt auch ihr Gefühl, dass sie Einfluss nehmen können und Entscheidungen treffen, die nicht gänzlich bedeutungslos sind – und nichts stimmt Spieler missmutiger, als wenn sie das Gefühl haben, der Spielball des Spielleiters zu sein.
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