Dass die Herrschaft von al-Hakim, dem sechsten Kalifen der Fatimiden, unter einem merkwürdigen Stern stand, hätte man möglicherweise bereits erahnen können, als er im Alter von 11 Jahren in die Hauptstadt Kairo einzog.
Keine Stunde nach dem Tod des Kalifen hatten seine Berater den jungen al-Hakim in die Gewänder eines Herrschers gekleidet. Die Leiche seines Vaters begleitend, schritt er der Prozession voran in die Stadt. Ein elfjähriger Bengel, auf dem Kopf ein edelsteinbesetzter Turban, an der Seite ein Schwert und in der Hand einen Speer. Dieses Auftreten stand im krassen Kontrast zu seinem Vater.
Kurz vor seinem Tod war al-Hakims Vater, der weithin berühmte und geschätzte Kalif al-‘Aziz, an der Spitze seiner imposanten Armee aus Kairo ausgezogen. Er galt als brillanter Anführer und kompetenter Herrscher. Von großer Statur und gutem Aussehen, hatte al-‘Aziz über 21 Jahre den Frieden zwischen den Religionen gewahrt, die Gesellschaft vereint und die Wissenschaft sowie die Kunst gefördert. Jetzt lag er in einem zu kleinen Sarg, aus dem seine Füße herausbaumelten.
Beim Aussehen hörten die Gegensätze nicht auf. Kalif al-Hakim wurde schnell berüchtigt für sein exzentrisches Auftreten und seine erratische sowie blutrünstige Art. Seine Paranoia und seine Schlaflosigkeit trieben gewaltige Blüten. Die Handwerker und die Künstler wurden angewiesen, nachts zu arbeiten und tagsüber zu schlafen. So konnte er mit seiner Entourage während seiner berüchtigten Nachtwanderungen einkaufen. Nach und nach verwandelte sich die Nacht in Kairo zum Tag. Amüsement und die nächtliche Gaudi bestimmten das Leben der Kairoer Stadtbevölkerung.
Doch der Gold- und Silberschmuck, die teure Kleidung, die Rennpferde und das ganze damit einhergehende Spektakel verschwanden urplötzlich. Als der Kalif eines Tages anfing, sein Haar nicht mehr zu schneiden, ein einfaches Wollkleid zu tragen, und den Turban ablegte, der ihm als Krone diente, schlug die Begeisterung für die vergangene Gaudi sehr schnell in Angst und Sorge um. Ein Kalif, der als verwirrter Zausel nachts allein durch die Stadt irrte, war kein Herrscher, der Stabilität garantieren konnte.
Die Bevölkerung war darum eher beruhigt als besorgt, als der verrückte Kalif eines Tages im Jahr 411 AH (1021 n. Chr.) auf seinem Esel aus der Stadt ritt und spurlos verschwand. Viele Mythen ranken sich um das Verschwinden des Kalifen, der nur ein Jahr zuvor seine Vergöttlichung deklariert hatte. In der religiösen Lehre der Drusen hat al-Hakim noch heute einen festen Platz.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quelle: Mernissi, Fatima & Lakeland, Mary Jo (Übers.): The Forgotten Queens of Islam. Polity Press: Cambridge, 1993 (Franz. Original: 1990). S. 161–167.