Die meisten Rollenspieler bevorzugen es, Charaktere des eigenen Geschlechts zu spielen. Tatsächlich bevorzugt die Mehrheit der Rollenspieler auch Charaktere der eigenen Rasse und Ethnie, wobei man Elfen und Zwerge nicht unbedingt in vollem Umfang als eigenständige Rassen gelten lassen muss. In den meisten Fantasywelten verkörpern sie lediglich bestimmte Aspekte des Menschlichen und überspitzen diese ein wenig. Sie sind Meta-Menschen – also Menschen im erweiterten Sinne. Drachenwesen, Halbdämonen und Orks sind bereits einen Schritt weiter davon entfernt. Sie unterscheiden sich ja schon allein optisch deutlich stärker von den Menschen.
Im ersten Teil der Serie zu Cross-Gender-Gaming möchte ich mich zunächst einmal der Frage widmen, was Cross-Gender-Gaming überhaupt ist. Im zweiten Teil habe ich bereits darüber geschrieben, warum Spieler sich dafür interessieren könnten, im Rollenspiel einmal das Geschlecht zu wechseln. In späteren Artikeln wird es um die möglichen Motivationen dazu gehen sowie um praktische Ratschläge für die optimale Umsetzung. In Teil geht es darum um Fallstricke beim Thema Cross-Gender-Gaming.
Die Auswahl von Spielerrassen in Fantasy-Rollenspielen
Die Auswertung von Daten eines D&D Charaktertools mit Hunderttausenden von Datensätzen ergab, dass 25 % aller Charaktere Menschen sind, 26 % Elfen und Halbelfen und 15 % Zwerge und Halblinge. Damit entfallen 66 % aller Charaktere auf das engere Menschenspektrum. Auch die Dominanz von Elfen (16 %) und Halbelfen (10 %) überrascht nicht. Schließlich sind diese beiden Rassen von allen Fastmenschen die, welche optisch am nächsten an uns Menschen dran sind, und in D&D gibt es kaum einen Zwang, sie nennenswert anders zu spielen als Menschen.
Die Präferenz zu dem, womit wir vertraut sind, ist völlig normal. Aber spielen wir im Rollenspiel bevorzugt Personen, gleich welcher Rasse, die das Gleiche tun, was wir auch real tun? Spielt ein Datenverarbeiter im Fantasy-Rollenspiel bevorzugt einen Stadtschreiber? Fällt die erste Wahl von Automechanikern auf einen Hufschmied? Und welchen Beruf muss man gelernt haben, um einen Magier zu spielen?! Zumal ich ziemlich sicher bin, dass es keine Priester sein werden, die im Spiel bevorzugt einen Kleriker von Asmodeus spielen.
Da hört sie dann also auf, die Tendenz zum Vertrauten. Teenager, die vor dem Spielabend noch ihre Hausaufgaben erledigen müssen, spielen plötzlich edle Ritter. Sie ziehen als gut aussehende Recken in strahlender Rüstung ins Abenteuer, egal ob sie gerade Akne haben oder im Stimmbruch sind. Der Mitspieler, der nie gut in Mathe und Physik war, spielt vielleicht einen zauberkundigen Forscher. Plötzlich scheint es vollkommen in Ordnung zu sein, Rollen anzunehmen, denen man selbst nicht entspricht. Und das stimmt. Das ist tatsächlich nicht nur in Ordnung so, sondern einer der Gründe, überhaupt Rollenspiele zu spielen!
Ist das andere Geschlecht soviel mysteriöser als ein Ork?
Aber dann ist da dieser eine Spieler, der sich an einem Charakter des anderen Geschlechts versuchen will, und auf einmal werden viele Leute hellhörig oder still. Sogenannten Cross-Gender Gamern, wie sie im Englischen heißen, schlägt unerwartet viel Ablehnung entgegen. Manche Gruppen – oder autokratische Spielleiter – verbieten es gar völlig. Sogar Florian Don-Schauen, der neben vielen anderen Dingen Redakteur des DSA Spielleiterbuchs „Wege des Meisters“ war, erklärt in ebendiesem Buch in einem äußerst eindeutigen Plädoyer, weshalb er Cross-Gender-Gaming nicht nur ablehnt, sondern sogar nahezu für unmöglich hält und gar nicht erst zulässt.
Cross-Gender Charaktere sind oft unverschuldet vorbelastet
Derartige Ablehnung liegt zum einen daran, dass viele Spieler schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Cross-Gender-Gaming. Vor allem solche, die früh mit dem Hobby anfangen. Die Pubertät ist eine spannende und abwechslungsreiche Zeit und zieht sich mitunter eine ganze Weile hin. Unter ihrem Einfluss kommt es dann oft zu weniger erinnerungswürdigen und ruhmreichen Charakteren. Einige nutzen die Macht, die sie als Spieler bei der Charaktererschaffung haben, um in Form ihres Charakters ein ganz bestimmtes Idealbild zu verwirklichen. Ich kann mich noch an die regelrecht absurde Schwemme von Cross-Gender-Charakteren in Shadowrun-Runden erinnern, deren Lookalikes Bilder von Lara Croft und Trinity waren.
Klar, das kommt vor. Wie benutzen unsere Fantasie, um zu träumen. Wie verlockend muss es also sein, sich die Traumfrau direkt selbst zu basteln? Ich denke, da sollte man ehrlich und fair sein: Das ist vollkommen normal. Und wo wir dabei sind, ehrlich zu sein, mal Butter bei die Fische: Unsere Mitspieler machen mit ihren CIS-Gender-Kriegern, -Magiern und -Waldläufern auch jede Menge peinliches und dämliches Zeug. Auch ich habe schon von den Spielern besonders heldenhafter Krieger-Mannsbilder erlebt, dass sie sich benommen haben wie hormongestörte Psychopathen auf Speed. Natürlich besonders auf Con-Runden, wo man sich kaum kennt.
Cross-Gender-Gaming ist kein weiterer Schritt der Entfremdung. Er ist nur ein Schritt in eine andere Richtung. Kann es peinliche Momente geben, besonders bei gemischten Gruppen? Ja, sicher. Aber das erfordert keine CG-Charaktere. Die produzieren nur peinliche Momente in anderen Bereichen und auf eine andere Art und Weise. Darüber sollte man hinwegsehen. Mit der Zeit hört es auf – oder es wird besser.
Und immer daran denken: Wenn ein gewaltscheuer und eher schwächlicher IT-Fachmann aus Hamburg einen muskelstrotzenden Schwertkämpfer aus Midgard spielt, dann ist das genau genommen viel weiter entfremdet, als wenn er eine gewaltscheue und eher schwächliche Netrunnerin in einer Hamburger Cyberpunkrunde spielen würde. Der Rest sind Details.
Warum fällt Geschlecht aus der Rolle?
Woran aber liegt es eigentlich, dass ein Charakter des anderen Geschlechts auffälliger ist als ein Charakter, der einen anderen Körpertyp hat? Warum ist es nichts Besonderes, wenn Markus einen Biker mit dicken Muskeln spielt, aber es fällt auf, wenn er eine Bikerin mit wahlweise dicken Muskeln, großen Brüsten oder beidem auf einmal spielen will?
Die hauptsächliche Ursache liegt daran, dass unsere Gesellschaft sexistisch ist. Vieles heute ist besser als vor 20 Jahren, als es besser war als vor 50 Jahren, als es besser war als vor 100 Jahren. Aber nichtsdestotrotz ist unsere Gesellschaft nach wie vor ausgesprochen sexistisch. Man muss sich nur angucken, welche Dinge in Spielzeuggeschäften für Mädchen angeboten werden und welche für Jungen. Piraten und Raumfahrer hier, Feen und Aristokratie in Rosa dort. Man muss nicht einmal raten, um zu wissen, was davon welchem Geschlecht zugerechnet wird.
Wenn ein Junge, egal ob er dick ist und Pickel hat oder der Fußballstar der Schule ist, einen muskulösen Krieger spielt, dann bewegt er sich in dem Spektrum, das die Gesellschaft allgemein für ihn als Mann akzeptiert, und dieses Spektrum ändert sich nur sehr langsam. Wenn Jungs Pirat spielen, dann fragt sich niemand, ob das eventuell eine akute Bedrohung für die Nordseeschifffahrt darstellen könnte. Ebenso befürchten Eltern, deren Tochter Prinzessin spielt, vermutlich kaum, dass sie Gefahr läuft, mit einem ägyptischen Oligarchensohn in einem Autobahntunnel zu verunglücken oder in Paris auf dem Schafott unter einer Guillotine zu enden.
Und wenn ein Spieler es eben doch tut und einen Charakter des anderen Geschlechts darstellt, fällt uns das stärker auf, weil diese Überschreitung unsichtbarer Normen stärker gespürt werden kann als eine Abweichung vom tatsächlichen Zustand in anderen Bereichen.
Aber es ist nur auffälliger, bis wir uns daran gewöhnt haben, und so lange dauert das gar nicht.
Und der Spielleiter?
Und was ist eigentlich mit dem Spielleiter bzw. der Spielleiterin? Bei denen akzeptiert man es doch auch. Oder tauchen bei Spielleitern etwa nur männliche NSCs auf und bei Spielleiterinnen nur weibliche? Wohl eher nicht. Außer vielleicht, man spielt „Macho Weiber mit Dicken Kanonen“. Wobei, auch da…
Dem Spielleiter oder der Spielleiterin geben wir da eine längere Leine. Das ist auch gut so. Der Fehler wäre nur, sie unseren Mitspielern nicht auch zu geben. Und wenn die Leine so lang ist, dass sie sich daran aufhängen, dann kann man auch einfach darüber reden und gucken, wo die Probleme liegen. Vielleicht könnt ihr einander helfen. Zum Beispiel, indem ihr einander Feedback zu eurem Charakterspiel gebt und Ratschläge, wenn ihr es angebracht findet.
Wenn es am Anfang nicht so recht klappen sollte, egal ob für Spielleiter mit NSCs des anderen Geschlechts oder für Spieler mit CG-SCs, dann macht so lange weiter, wie es euch Spaß macht. So lange, bis es funktioniert, denn das wird es schließlich irgendwann tun, und ihr werdet eine Menge dabei lernen. Über euch, über eure Mitspieler und darüber, was es heißt, dem anderen Geschlecht anzugehören.
Denn das ist eine der großen Stärken von Rollenspiel. Die Erfahrungen, die wir im Spiel machen, sind zwar anders als direkte, persönliche Erfahrungen, aber sie sind neurologisch keineswegs wirkungslos. Nein, niemand wird zur Frau, homosexuell oder transsexuell, weil er einen Cross-Gender-Charakter spielt. Aber ja, er wird lernen, Frauen besser zu verstehen, und sie wird lernen, Männer besser zu verstehen, und das ist eine tolle Sache, die im Leben sehr nützlich sein kann.
Zusammenfassung
Wenn ein Spieler einen Charakter spielt, dessen Geschlecht ein anderes ist als sein eigenes, dann fällt das stärker auf als andere Abweichungen wie Kultur, Körperbau, Herkunft oder Beruf. Es ist aber für sich genommen kein Problem für die Gruppe. Wenn es holpert, dann wird es mit der Zeit besser werden, oder der Spieler verliert das Interesse daran. In jedem Fall ist es eine Chance für alle Beteiligten, wenn sie nur wahrgenommen wird.
Im einem anderen Teil wird es um die Frage nach dem Warum gehen. Was für Gedanken und Überlegungen motivieren einen Rollenspieler, Charaktere des anderen Geschlechts zu spielen?